„Sind Sie noch da?“, fragt der Patient den Analytiker, wenn er still hinter der Couch sitzt. Hat der Patient traumatisierende, frühe Abwesenheiten von Mutter und Vater erlebt, dann wird die Vorstellung, der Analytiker könnte verschwunden sein, unter Umständen so stark, dass der Patient sich auf der Couch umdrehen und vergewissern muss, dass der Analytiker noch da ist. Das Gefühl, der andere sei da oder auch das Gefühl, man selbst ist da, ist nicht immer selbstverständlich. Auch der Analytiker hinter der Couch kann die Phantasie oder das Gefühl bekommen, er sei für den Patienten nicht mehr da, vielleicht gar nicht sichtbar (was er ja für den liegenden Patienten tatsächlich nicht ist). Kleine Kinder machen frühe Erfahrungen mit dem „Weg“ und „Da“, indem sie „Kuckuck-Spiele“ machen. Wenn sie sich selbst die Augen zuhalten, glauben sie, der andere könne auch sie nicht mehr sehen.
Das heißt: Wenn ich den anderen nicht mehr sehe, kann die unbewusste Phantasie auftauchen, dass auch ich weg bin, dass ich für den anderen nicht mehr sichtbar bin.
„Du behandelst mich wie Luft“, sagen wir manchmal, wenn jemand ständig so tut, als seien wir gar nicht da. Sigmund Freud erzählte die Geschichte seines eineinhalb Jahre alten Enkels Ernst, der sich über die Abwesenheit seiner Mutter mit einem Fort-Da-Spiel hinwegtröstete. (Freud: Jenseits des Lustprinzips. Das Unbewusste, GW Band 5, Projekt Gutenberg) Die Erfahrungen von „Weg“ und „Da“ gehören zu den ersten, die wir überhaupt machen. In der Psychoanalyse tritt das Thema besonders an Wochenenden und in Ferienzeiten auf.
Manchmal sind wir vielleicht überrascht, dass andere sich unseren Namen gemerkt haben. Unbewusst hatten wir vielleicht die Phantasie, dass wir nicht präsent genug für den anderen waren, damit er sich unseren Namen merken konnte.
Wer Analytiker werden will, für den ist es wichtig, sich über die eigenen Vorstellungen von „Weg“ und „Da“ bewusst zu werden. Denn als Analytiker wird man die Rolle desjenigen einnehmen, der den Patienten alleine lässt: im Urlaub, an den Wochenenden, am Ende der Stunde. Wenn ich mir als Analytiker meiner „Präsenz“ selbst zu unsicher bin, kann es passieren, dass ich dann aktiv werde und mich bemerkbar manchen möchte, z.B. indem ich den Drang habe, einem Patienten hinterherzutelefonieren, wenn dieser nicht kommt. Wir haben vielleicht die Phantasie, dass der Patient uns als völlig abwesend erlebt. Wichtig ist es dann, sich seiner Präsenz bewusst zu werden. Denn einem Patienten hinterherzutelefonieren, bedeutet, sich zum Verfolger zu machen. Es ist wichtig, dass der Patient frei bleiben kann – auch in seinen eigenen Phantasien um Ab- und Anwesenheit.
In der eigenen Lehranalyse beschäftigt man sich mit diesen Fragen: Wie ist es für mich, wenn mein Lehr-Analytiker abwesend ist? Wie verlassen oder wie präsent fühle ich mich in der Lehranalyse oder als angehender Analytiker hinter der Couch? Wann bekommt eine Beziehung etwas Verfolgendes? Wieviel muss „gemacht“ werden, damit ein lebendiges Gefühl entsteht? Halte ich es aus, wenn der Patient mich „wie Luft“ behandelt?
In der Lehranalyse kann nach und nach das Gefühl entstehen: Ich bin da. Ich bin für den Patienten präsent und ich verlasse auch mich selbst nicht. Ich kann oszillieren zwischen der Welt des Patienten und meiner eigenen Welt und ich kann beweglich bleiben. Der Patient kann mich nutzen. Wenn ich in der Ausbildung zum Psychoanalytiker die Sicherheit erlange, mit der ich sagen kann: „Ich bin da und das reicht“, dann hat man etwas sehr Wichtiges erreicht.
Blumenberg, Yigal (2005):
„Fort – da: Die Vertreibung aus dem Paradies ins Leben“
Ein Kommentar zu „Jenseits des Lustprinzips“
Forum der Psychoanalyse, Ausgabe 2/2005
https://www.springermedizin.de/fort-da-die-vertreibung-aus-dem-paradies-ins-leben/8522886
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 22.9.2021