
Als Psychoanalytiker kann man klarifizieren, konfrontieren, Gesagtes markieren, das Übertragungsgeschehen deuten, Widerstandsdeutungen geben, Zusammenhänge herstellen, aber ganz besonders kann man mit gleichschwebender Aufmerksamkeit (einem meditativen Zustand) da sein. Diese Präsenz ist für den Patienten deutlich spürbar und die „verstoffwechselnde Wirkung“ ist schwer zu erklären – man muss es selbst erfahren. Es fühlt sich manchmal so an, als werde die eigene Seele von einer anderen Seele berührt. Daraus entstehen Halt, Veränderung, Beruhigung, Linderung, mitunter aber auch Unruhe und Aufregung. Als Analysand kann man vielleicht zutiefst aufatmen, vielleicht ist man aber auch eine Zeitlang verwirrt. Die Arbeit des Analytikers erinnert an die Tätigkeit einer Hebamme: Sie sitzt neben der werdenden Mutter und wartet geduldig – sie kennt die Vorgänge der Geburt und vertraut den natürlichen Fähigkeiten der Frau.
Nicht mehr alleine
Der Analytiker will nichts verändern, sondern er hält mit aus. Der Patient gebiert dabei oft seine eigene Erkenntnis, seine eigene Lösung. Er geht einen inneren Entwicklungsschritt und wird dabei begleitet. Zu spüren, dass der Analytiker da ist, während schmerzliche oder schwer beunruhigende Erlebnisse wieder präsent sind und zu spüren, dass das Analytiker zutiefst mitfühlen kann, hat seine eigene heilende Wirkung. Sie ist mindestens genauso wirksam wie das gesprochene Wort.
Auch in Zeiten von COVID ist es für viele Patienten enorm wichtig, weiterhin die Psychoanalyse in Präsenz zu erhalten. Ein Online-Setting kann die körperliche Anwesenheit als Wirkfaktor nicht ersetzen.
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Lesetipps:
Manfred G. Schmidt:
Der Einfluss der Präsenztheorie auf die psychoanalytische Behandlungstechnik
Psyche, Klett-Cotta, Heft 09-10, September 2014
Salman Akhtar:
Psychoanalytic Listening
Karnac Books, 2012
Einmaligkeit des Erlebens
Hans Ulrich Gumbrecht über Sinnkulturen und Präsenzkulturen
Von Waldemar Fromm
literaturkritik.de/id/7427
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