49 Wie werde ich Psychotherapeut*in/Psychoanalytiker*in? Allein die Präsenz ist wirksam

Als Psychoanalytiker kann man klarifizieren, konfrontieren, Gesagtes markieren, das Übertragungsgeschehen deuten, Widerstandsdeutungen geben, Zusammenhänge herstellen und vieles mehr. Aber ganz besonders kann man mit gleichschwebender Aufmerksamkeit, also in einem meditativen Zustand, da sein. Diese Präsenz ist für den Patienten deutlich spürbar und die verstoffwechselnde Wirkung ist schwer zu erklären – man muss es selbst erfahren. Es fühlt sich manchmal so an, als werde die eigene Seele von einer anderen Seele berührt. Daraus können Halt, Veränderung und tiefe Beruhigung entstehen.

Als Analysand kann man in solch guten Momenten zutiefst aufatmen. Die Arbeit des Analytikers erinnert an die Tätigkeit einer Hebamme: Sie sitzt neben der werdenden Mutter und wartet geduldig – sie kennt die Vorgänge der Geburt und vertraut den natürlichen Fähigkeiten der Frau.

Nicht mehr alleine

Der Analytiker will nichts verändern, nichts heilen, nichts retten. Er hält mit aus. Der Patient gebiert dabei oft seine eigene emotionale oder kognitive Erkenntnis, seine eigene Lösung. Er geht einen inneren Entwicklungsschritt und wird dabei begleitet. Zu spüren, dass der Analytiker da ist, während schmerzliche oder schwer beunruhigende Erlebnisse wieder präsent sind und zu spüren, dass das Analytiker zutiefst mitfühlen kann, hat seine eigene heilende Wirkung. Sie ist mindestens genauso wirksam wie das gesprochene Wort.

Um diese Präsenz so wirksam zu spüren, ist es wichtig, dass beide Personen körperlich in einem Raum sind. Online-Analysen können ein Segen sein, wenn aufgrund großer Distanzen eine psychoanalytische Behandlung oder Ausbildung nicht anders möglich ist. Der Psychoanalytiker Christopher Bollas schildert in seinem Buch „Wenn die Sonne zerbricht“, wie er aus einsamen Wäldern in den USA eine schizophrene Patientin in Schottland analysierte. Doch die körperliche Anwesenheit als Wirkfaktor kann ein Online-Setting wahrscheinlich nicht ersetzen.

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Lesetipps:

Manfred G. Schmidt:
Der Einfluss der Präsenztheorie auf die psychoanalytische Behandlungstechnik
Psyche, Klett-Cotta, Heft 09-10, September 2014

Salman Akhtar:
Psychoanalytic Listening: Methods, Limits, and Innovations
Routledge, 2012

Hans Ulrich Gumbrecht (2004):
Diesseits der Hermeneutik
Über die Produktion von Präsenz
Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte
Suhrkamp | Insel, 2004

Eine Rezension von Waldemar Fromm:
Einmaligkeit des Erlebens
Hans Ulrich Gumbrecht über Sinnkulturen und Präsenzkulturen
literaturkritik.de/id/7427

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