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Buchtipp: „Hysterie“ von Stavros Mentzos

Die Hysterie gilt als „Clown unter den Neurosen“. Der hysterische Mensch hat etwas Theatralisches und Unechtes an sich. Viele haben sich an Definitionen versucht, doch neben den Gemeinsamkeiten der Ausarbeitungen findet sich viel Widersprüchliches. Der Psychoanalytiker Stavros Mentzos (geboren 1930 in Athen, am 16. Mai 2015 verstorben), hat in seinem Buch „Hysterie – Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen“ ein deutliches Bild von der Hysterie gezeichnet. Taubheitsgefühle, Sehstörungen, Amnesien, unverständliche Gefühlsausbrüche und vieles mehr gehört zum Bild der Hysterie. Doch „hysterisch“ kann jeder reagieren. Der „hysterische Modus“ kann in schwierigen Lebenssituationen immer auftreten. Auch ist die Hysterie nicht an einen speziellen Konflikt gekoppelt, erklärt Mentzos.

Im hysterischen Modus befinde sich der Betroffene in einer gekünstelten Welt, in die er auch seinen Therapeuten/seine Mitmenschen hineinziehen will, so Mentzos. Er wolle sich selbst und andere davon überzeugen, dass diese Welt echt sei. Doch jeder habe das Gefühl: Hier stimmt etwas nicht ganz. Doch der Weg hinaus aus dieser gekünstelten Welt ist nicht so einfach. Oft gelingt es erst Patienten im fortgeschrittenen Analysestadium zuzugeben, an welchen Stellen sie sich und andere in die Irre führen wollten.

„Es ist nämlich sehr schwierig und beschämend zuzugeben, dass man in dieser oder jenen heftigen dramatischen Szene doch keineswegs total ‚außer sich‘ war und dass man sich im Gegenteil sowohl an die Einzelheiten erinnern kann als auch an die Tatsache, dass man während des Ablaufs der Szene das Bewusstsein hatte: ‚Ich könnte eigentlich auch anders handeln, lassen wir es aber weiter so laufen!'“ (S. 85/86)

Die Grundlage: Echter Schmerz

Auch wenn man den hysterischen Menschen oft nicht ganz ernst nehmen kann, so ist die Grundlage doch meistens ein echter Schmerz. Schwere Traumata können so unerträglich sein, dass hysterisches Verhalten daraus resultiert. Das Entscheidende ist, dass der Hysteriker auch sich selbst glauben machen möchte, dass das Bild, das er zeichnet, echt ist. Er möchte sein eigenes Selbstbild verändern.

„Unsere Patientin dagegen verhält sich nicht so, als ob sie echt empört wäre, sondern als ob sie empört erscheinen möchte – allerdings nicht nur für die anderen, sondern auch für sich selbst.“ (S. 68)

Mentzos‘ Sprache ist klar und verständlich. Er stellt die Fragen, die sich auch der Leser stellt, zum Beispiel Fragen zum Unterschied zwischen Hysterie, Narzissmus und anderen Störungen. Ein sehr empfehlenswertes Buch für alle an der Hysterie Interessierten.

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Buch:

Stavros Mentzos:
Hysterie: Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen
Vandenhoeck & Ruprecht, 11. Auflage 2012
https://www.vr-elibrary.de/doi/book/10.13109/9783666461996

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.7.2015
Aktualisiert am 8.3.2024

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Ödipale Phase (= Phallische Phase)

Nach der Theorie der Psychoanalytiker ist ein Kind (in unserer Kultur) zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr in der ödipalen Phase, auch „phallische Phase“ genannt (phallus = griechisch: Penis). Hier werden die Themen, die sich rund um das eigene Geschlecht, die Sexualität und die Geschlechterrollen drehen, besonders deutlich. Mädchen und Jungen entdecken intensiv den Unterschied zwischen den Geschlechtern. Doktorspiele sind jetzt beliebt. In dieser Zeit hört man von manchen Mädchen, sie wollten später den Vater heiraten. Sie spielen Prinzessin in dem Wissen, dass die Mutter die „Königin“ ist und sich nicht vom Thron werfen lässt. Wenn man Kinder in ihrer Entwicklung beobachtet oder Erwachsene psychoanalysiert, ist man erstaunt, wie vieles sich davon wiederfindet. Vieles ist uns nicht bewusst, sondern spielt sich in unbewussten Phantasien ab.

Der Begriff „ödipale Phase“ geht auf die griechische Ödipus-Sage zurück, in der Ödipus seinen Vater Laios tötet und seine Mutter Iokaste heiratet, ohne es zu wissen.

Viele Jungen suchen der Theorie nach in der ödipalen Phase besonders die Nähe zur Mutter. Sie möchten vielleicht nicht mehr alleine im eigenen Bett schlafen und bestehen darauf, dass sie nachts zur Mama krabbeln dürfen. Bei Mädchen mag es in dieser Zeit umgekehrt sein: Sie lieben ihren Papa über alles, während die Mama ihnen nichts mehr recht machen kann. Die Kinder gehen nach dieser klassischen Theorie einen Kampf mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil ein und wollen unbewusst diesen Elternteil aus dem Weg räumen. Nur so können sie den begehrten Elternteil ganz für sich gewinnen. Tatsächlich lassen sich Anteile dieser Theorie immer wieder bei Kindern beobachten. Die Wünsche der Kinder sind mit starken Ängsten verbunden.

Kastrationsangst ist die Angst, beschnitten zu werden

Viele Jungen fürchten sich laut Freuds Theorie vor der Rache des Vaters. Die „Kastrationsangst“ steht hierbei im Vordergrund. In Träumen und Phantasien zeigt sich die Angst des Jungen, dass seinem Penis oder anderen Körperteilen Schaden zugefügt wird. Er bangt um seine männliche Identität. In dieser Zeit haben viele Jungen, aber auch Mädchen, Angst vor lauten Geräuschen, vor Rasenmähern, Staubsaugen und Kreissägen – eben vor allem, was zu Verletzungen führen könnte. Auch die Angst vor dem dunklen Keller oder dem Drachen unterm Bett kann da sein. Alte Erziehungsmethoden fördern diese Angst, wenn Erwachsene z.B. damit drohen, den Daumen abzuschneiden, wenn das Kind nicht aufhören will, daran zu nuckeln.

Den Mädchen bleibt nur der Pferdeschwanz

Viele Mädchen setzen sich mit dem fehlenden Glied auseinander. Sie haben das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Unbewusst geben sie die Schuld dafür der Mutter – so jedenfalls die Theorie der Psychoanalytikerin Melanie Klein (1882-1960). Das verstärkt die inneren Kämpfe des Mädchens mit ihr. Die Mädchen leiden am so genannten Penisneid. Der Begriff „Penisneid“ kann konkret oder auch symbolisch verstanden werden. Es ist der Neid des Mädchens auf den Jungen bzw. der Frau auf den Mann. Der Neid, dass Männer zum Beispiel mehr Geld verdienen oder häufiger im Beruf mehr Macht haben, zählt ebenfalls zum Penisneid (aber natürlich auch zu handfester Ungerechtigkeit).

„Später heirate ich einen Mann“ – „Später heirate ich eine Frau“

Bei ihrer Entwicklung geben Mädchen und Jungen irgendwann ihren Kampf um den Vater bzw. die Mutter auf. Sie resignieren und merken, dass sie ihren Wunsch, zu heiraten, vertagen müssen. Vater oder Mutter können sie jedenfalls nicht heiraten. Und sie können die Eltern auch nicht trennen, denn die Eltern gehören zusammen – im Idealfall. Lassen sich die Eltern trennen, haben die Kinder meistens große Schuldgefühle. Diese Schuldgefühle gehen zwar weit über die Themen der „ödipalen Phase“ hinaus, aber sie können doch damit zusammenhängen. Im Idealfall gehören die Eltern zusammen und lieben sich. Es gibt wohl kaum ein Kind, das dieses Vater-Mutter-Kind-Idyll nicht liebt. Fast alle Kinder wollen die Eltern im Trennungsfall wieder zusammenführen.

Das Ende der ödipalen Phase – es kehrt Ruhe ein

Wenn die ödipale Phase beendet ist, haben die Kinder auch „sich selbst“ gefunden. Für das Kind bleibt, bildlich gesprochen, die Schlafzimmertür der Eltern zu. Das schmerzt das Kind einerseits, denn es bemerkt, dass es getrennt ist vom Elternpaar. Es merkt aber anderseits auch, dass es sich seiner selbst sicher sein kann. Es kann in Ruhe seine Sexualität, seine Geschlechtsidentität finden, ohne dass die Gefahr des sexuellen Missbrauchs besteht. Die Jungen und Mädchen wenden sich wieder dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu. Das Mädchen „versöhnt“ sich mit der Mutter, der Junge mit dem Vater. Sie wollen vieles wieder gutmachen, weil sie sich schuldig fühlen, dass sie das gleichgeschlechtliche Elternteil so schlecht behandelt haben. Das Verhältnis zur Mutter bzw. zum Vater wird wieder liebevoller – der Dritte im Bunde wird akzeptiert (Triangulierung). Die Kinder treten in die so genannte Latenzphase ein, die bis zur Pubertät anhält. Dann wird das Interesse für die Sexualität auf einer reiferen Stufe neu geweckt.

Hysterische Neurose als Folge ungelöster Probleme

Probleme im Erwachsenenalter, die mit der ödipalen Phase zusammenhängen (z.B. übertriebenes Konkurrenzdenken oder ständige Feindschaften zum gleichen Geschlecht, wiederholtes und schmerzhaftes Verlieben in verheiratete Männer oder Frauen, hypochondrische Ängste, Folgen von Missbrauchserlebnissen) wurden in psychoanalytisch traditioneller Sprache als „hysterische Neurose“ bezeichnet. Heute ist es mit den Erkenntnissen der Säuglings- und Traumaforschung komplizierter geworden und Folgen von Missbrauchserlebnissen werden z.B. als komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) diagnostiziert.

Die ödipale Phase ist eng verknüpft mit der Gefahr des sexuellen Missbrauchs in der Familie. Wenn die Eltern keine stabile Partnerschaft haben und Väter (oder auch Mütter!) instabil sind, dann nehmen sie die liebevoll-wilde Annäherung („Verführung“) des Mädchens (des Jungens) leicht an und sexueller Missbrauch kann entstehen. Natürlich hat hier das Mädchen/der Junge keine Schuld. Die Kinder befinden sich in einem gesunden Entwicklungsstadium. Es ist Aufgabe von Vater und Mutter, die Grenze zu ziehen.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 29.7.2012
Aktualisiert am 3.6.2015

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