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Autistische Zustände psychoanalytisch erklärt – Buchtipp: „Wendepunkte“

Autismusspektrumstörungen sind aus heutiger Sicht größtenteils neurologisch bedingt. Dennoch lohnt sich der Blick auf Theorien von Psychoanalytikern, denn das Autismusspektrum ist breit und manche Ansätze könnten dazu führen, dass wir Autistisches allgemein besser verstehen. Der Beitrag „Die Analyse autistischer Zustände im Erwachsenenalter“ von Judith Mitrani erlaubt faszinierende Einblicke in die autistische Welt (In: „Wendepunkte – zur Theorie und Klinik psychoanalytischer Veränderungsprozesse“, Hrsg. Bernd Nissen, Psychosozial-Verlag 2012). Die Autorin weist auf das Konzept der „autistischen Objekte“ und der „autistischen Formen“ der Psychoanalytikerin Frances Tustin hin.

Frances Tustin stellte die These auf, dass autistische Kinder sich möglicherweise zu früh gewahr werden, dass sie ein von der Mutter getrenntes Wesen sind. Das „vorzeitige Gewahrsein der Zweiheit“ und die „Ekstase des Einsseins“ könnten dann zu ungewöhnlichen Verhaltensweisen führen. Das Kind lenke zum Beispiel seine ganze Aufmerksamkeit auf sich selbst – insbesondere auf seine Sinne. Es neige zur „Autosensualität“. Schaukeln, Kopfanschlagen und zwanghafte Wiederholungen könnten die Folge sein, so Judith Mitrani.

Kein Spiel, kein Traum, kein Symbol

Viele autistische Kinder könnten nicht spielen (Tustin 1988) bzw. nicht in der Weise spielen wie es nicht-autistische Kinder tun, so Mitrani. Anstatt Objekte zur Kommunikation bzw. zum Spiel zwischen sich und dem anderen zu nutzen, benutzten sie die Objekte, um ihre Haut zu reizen und sich damit selbst zu spüren. Viele autistische Kinder könnten aber auch nicht träumen, weil ihnen die projektive Identifizierung als Kommunikationsmittel (Bion 1962) nicht zur Verfügung stehe, so Mitrani.

Menschen mit Autismus seien nur wenig dazu in der Lage, Symbole zu bilden oder zu verstehen (M. Klein 1930). Das, was in der Psyche des autistischen Kindes geschehe, bleibe ihm selbst verborgen. Auch der Analytiker könne das Versteckte nicht fassen und so müsse er sich „sich dessen, was fehlt, gewahr sein“ und „dieses Gewahrsein ertragen“. Das Fehlende könne jedoch zur „Nahrung des gemeinsamen Nachdenkens werden“, so Judith Mitrani.

„Psychoanalytische autistische Forschung vergleicht autistische Zustände mit einem Zustand von ‚psychisch nicht geboren worden‘ sein (Tustin 1991).“
In: Strauß, Viviana: Zur Metapsychologie des Autismus, Dissertation 2009, S. 10; Tustin F 1991: Revised Understandings of psychogenic Autism. Int. J. Psycho-Anal., 72:585-591, pep-web.org

Ein Ding besitzen geht, eine Beziehung haben nicht

Der Analytiker finde Hinweise auf psychisch Verborgenes, indem er die Übertragung und Gegenübertragung minutiös beobachtet, so Mitrani. Patienten im autistischen Zustand nähmen ihren Analytiker mitunter nicht als lebendiges Wesen wahr, sondern als „lebloses Ding“. Dieses „Ding“ hätten die Patienten selbst in der Hand – sie könnten es ausbeuten, konstruieren, manipulieren oder meiden, so Judith Mitrani. Für Patienten im autistischen Zustand sei es unerträglich zu bemerken, dass sie anders sind als der Analytiker. Daher „mache“ der Patient es so, dass er sich selbst und den Analytiker nur ungenau (undifferenziert) wahrnimmt. (Anmerkung: Dies erinnert mich an Arbeiten in Frankreich, in denen Therapeuten den autistischen Patienten imitieren und so eine Kommunikation mit ihm aufbauen können.)

Von Autismus betroffene Kinder konzentrierten sich auf die Oberfläche der Haut sowie auf die Eindrücke, die über die Augen, die Ohren und die Schleimhäute entstünden, so Mitrani. Auch bei nicht-autistischen Kindern kann man das beobachten: Das Schnüffeltuch, das immer wieder entlang der Nase gerieben wird, gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit und „Undurchdringlichkeit“. Das Empfinden über die Haut wirkt beruhigend oder auch betäubend.

Manche autistische Menschen hätten als Gegenüber also noch nicht einmal ein „Objekt“, also einen Menschen, den sie als „Ding“ ansehen, so Mitrani. Daher können sie noch nicht einmal die frühen Abwehrformen einsetzen, wie Melanie Klein (1946) sie beschrieben hat. Sie seien darauf angewiesen, ihre eigene Haut und ihre Sinne zu benutzen. Ängste würden „im autistischen Zustand mithilfe auto-sensueller oder adhäsiver Maßnahmen“ (Bick 1968) gemieden (S. 139).

Angst, zu verschwinden

Viele autistische Menschen hätten Angst, nicht vorhanden zu sein, niemand und nirgendwo zu sein, so Mitrani. Diese Ängste habe bereits Tustin und Winnicott (1949) beschrieben (S. 139). Unter anderem deshalb stimulierten autistische Menschen ständig ihre Sinne.

Häufig beschrieben sich autistische Patienten als „flüssig“, so Mitrani. Eine Patientin der Autorin Judith Mitrani habe sich wie ein „Wasserfall“ gefühlt, wenn die Aufmerksamkeit ihrer Analytikerin in den Ferienzeiten weg war. Um dagegen anzukämpfen, würden autistische Patienten dann „erstarren“. Die Betroffenen fühlten sich manchmal in ihrer ganzen Existenz als „flüssig“ – die Persönlichkeit und der Körper seien „noch nicht hinreichend voneinander differenziert und gefestigt“ (Tustin 1986).

„Tatsächlich gehen Flüssigkeiten durch Erstarrung in einen festen Zustand über“ (Mitrani, S. 141). Auch andere Menschen würden durch die „Eisschranke“ von ihnen ferngehalten, so Mitrani. „In der Analyse versuchen wir – häufig erfolgreich -, in die schützende Kapsel unserer Patienten einzudringen und setzen dabei explosive, gewalterfüllte Gefühle, überwältigende Panik, unaussprechliche Verzückung und untröstliche Trauer frei“ (Mitrani, S. 143). Autistischen Patienten fiele es im sicheren Rahmen der Psychoanalyse oft leichter, ein „zuhörendes als auch sprechendes Objekt wahrzunehmen“ als anderswo, so Mitrani (S. 143).

Der Körper im Mittelpunkt

Autistische Patienten „spürten“ eher als dass sie sich etwas vorstellen könnten (Tustin 1986), so Mitrani. So komme es, dass die Patienten Phantasien oder Träume eher am Körper wahrnähmen als sie sich im Geist vorzustellen. Sie empfänden ihre „Phantasien oder Träume als taktile Halluzinationen“.

Die Patienten seien sehr empfindlich, wenn es zu äußeren Veränderungen kommt, erklärt Mitrani. Eine Patientin von Judith Mitrani habe zum Beispiel „jede Veränderung in meinem Bücherregal körperlich wahr(genommen) (S. 145). Wenn sich die Stellung der Bücher im Regal veränderte, war es, als würde sich die Position der Therapeutin verändern. Das erinnerte die Patientin unbewusst an die unberechenbaren Veränderungen ihrer manisch-depressiven Mutter. Die Patientin fühlte sich so, als hätte sie eine ‚Monstermutter‘ gehabt, die sie nicht ‚zusammenhalten‘ konnte, als die Patientin ein Baby war“ (S. 146). Andere Patienten wiederum reagierten irritiert, wenn sich Lichtverhältnisse ändern. Eine Patientin von Judith Mitrani erlebte eine Lichtveränderung als „Vorbote“ einer „Stimmungsveränderung“ der Analytikerin ihr gegenüber (S. 146).

Autistische Kinder lieben geometrische Formen

Im Kapitel „Formen auf der Schwelle“ beschreibt die Analytikerin Maria Rhode, wie Kinder aus dem Autismus auftauchen (S. 81). Die Autorin beschreibt, wie Körperliches und Psychisches bei den autistischen Patienten zunächst zusammenhängen. Ein Kind war zum Beispiel nicht fähig, zwischen „emotionaler Offenheit“ und „physischer Offenheit“ zu unterscheiden (S. 88).

Beispielsweise öffnete ein autistisches Kind die Tür, um zu zeigen, wenn eine Kommunikation stattgefunden hatte. Auch die Vorstellung, im anderen einen Platz zu haben, nähmen die Patienten manchmal wörtlich. Sie könnten kaum denken: „Die Therapeutin denkt an mich.“ Stattdessen stellten sie sich vor, sie wären im Körper der Therapeutin, so Maria Rhode.

Ein Teil der Psyche eines anderen zu sein sei für die Betroffenen wie ein Teil des Körpers eines anderen zu sein. Oft spielten dabei geometrische Formen eine wichtige Rolle. Maria Rhode (2010) hat zum Beispiel „in ihrer Arbeit mit autistischen Kindern die Erfahrung gemacht, dass Dreiecksformen auftauchen, wenn die Kinder dabei sind, wichtige Entwicklungsschritte zu machen“ (S. 70).

Wie die psychoanalytische Therapie bei Autismus helfen kann

In der psychoanalytischen Therapie mit autistischen Patienten versuchen die Analytiker, „immer wieder etwas in Worte zu fassen und damit auch zu riskieren, einen Schrecken auszulösen“, schreibt Angelika Staehle im Kapitel „Ich bin du und du bist ich“ (S. 70). Sie macht Hoffnung: „… denn bei jedem Kind, auch einem Kind mit schwerwiegenden autistischen Zügen muss man daran festhalten, dass es einen nicht autistischen Teil gibt, wie entwicklungsverzögert er auch sein mag“ (S. 70).

„In den Sitzungen mit einem solchen Kind geht es nicht darum, Unbewusstes bewusst und der Einsicht zugänglich zu machen, sondern das Erleben des Patienten aufzunehmen und zu versuchen, ihm einen zunächst rudimentären Sinn zu geben. Es geht hier um Halten im Winnicottschen Sinne und um Bionsches Containment, das heißt die bislang nicht mit Sinn versehenen Beta-Elemente oder rudimentären Erfahrungsbrocken sukzessive in einen Gefühls- und Sinnzusammenhang zu bringen (vgl. Staehle 1999, 2006, 2007).“ Angelika Staehle, S. 70

Vewandte Artikel in diesem Blog:

Buch:

Bernd Nissen (Herausgeber)
Wendepunkte
Zur Theorie und Klinik psychoanalytischer Veränderungsprozesse
Psychosozial-Verlag 2012

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 19.5.2013
Aktualisiert am 10.7.2023

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