
Ein Mädchen ritzt sich mit einer Rasierklinge, nachdem ihr Vater plötzlich das Besuchswochenende abgesagt hat. Mit den Schnitten in den Unterarm befreit sich das Mädchen vom Druck, aber es entsteht auch Scham. Sie spürt Wut auf den Vater und will vielleicht auch ihn verletzen, aber da das nicht geht, verletzt sie sich selbst. Wenn sie sich schneidet, spürt das Mädchen ihr warmes Blut. Das entspannt sie. Und dann umsorgt sie sich, indem sie ihre Wunden desinfiziert und sich den Arm verbindet. Das Mädchen umsorgt sich selbst mit der Wärme, die sie vermisst.
Das sich selbst verletzende Mädchen will sich vom Druck befreien. Aber sie spielt damit auch etwas nach: Der Vater hat sie „verletzt“. Sie verletzt sich nun selbst. Sie wünscht sich Zuwendung vom Vater und sie wünscht sich sein „Kümmern“. Nachdem sie sich geritzt hat, kümmert sie sich um ihre Wunde und versorgt sich selbst. Wie groß muss die Sehnsucht da nach einem anderen sein, der sie wärmt, beschützt und umsorgt.
Der Schnitt: Grenzen setzen, Grenzen aufbrechen
Manchmal ist die Sehnsucht nach einer Grenze unendlich groß. Wer als Kind körperlich bestraft, seelisch gedemütigt oder sexuell missbraucht wurde, hat immer wieder erfahren: Da ist keine Grenze. Keine Grenze zwischen mir und dem anderen, keine Grenze zwischen den Generationen.
Auch weniger dramatische, immer wiederkehrende Grenzüberschreitungen können dazu führen, dass man glaubt, sich selbst nicht mehr zu kennen.
Mit dem Schnitt spürt der Betroffene sich wieder selbst und weiß, wo seine Grenze ist. Gleichzeitig ist der Schnitt aber auch das Aufbrechen einer Grenze – der Betroffene beschädigt die eigene Grenze und stellt damit Kontakt zu anderen her. Andere wollen helfen.
„Ich schreibe Dir vor, was Du zu fühlen, sagen, meinen und glauben hast“
Wenn Eltern zu oft meinen, das Kind besser zu kennen als es sich selbst kennt, sorgen sie dafür, dass das Kind den Kontakt zu sich selbst verliert. Das kann schon bei kleinen Dingen sein, z.B. wenn ein Kind sagt: „Ich fand unseren Ausflug nicht schön“ und die Mutter antwortet: „Doch, doch, das war doch total nett!“ Die Mutter bemüht sich dann, dem Kind das „schlechte Gefühl“ zu nehmen. Sie versucht es davon zu überzeugen, dass der Ausflug doch nett war und „beauftragt“ das Kind, seine Gefühle zu ändern. Zu schmerzlich ist für die Mutter der Gedanke, es könnte ihrem Kind nicht gut genug gehen. Zu weh tut es ihr, wenn sie sieht, dass sie und ihr Kind unterschiedlicher Meinung sind. Diese natürliche Trennung können manche Mütter, die selbst sehr geschwächt sind, gar nicht aushalten.
Häufige Grenzüberschreitungen hinterlassen Spuren
Wer als Kind häufig Grenzüberschreitungen erlebt hat und dann mit der Pubertät beginnt, sich mehr und mehr von den Eltern zu distanzieren, der hat es oft schwer, sich selbst zu finden. Was mag ich, was mag ich nicht, was gefällt mir, was fühle ich, was ist meine Meinung und was die Meinung des anderen? Vor diesen Fragen steht der Jugendliche plötzlich und weiß sie kaum zu beantworten. Ein unangenehmes Gefühl der Schwerelosigkeit kann da entstehen – man ist ohne Bezug zum Boden oder ohne gesunden Bezug zu anderen und sich selbst. Das Gefühl, fallen gelassen zu werden, kann in der Pubertät mächtig groß werden. Es kann gleichermaßen den Wunsch nach Halt, Kontakt, Berührung und Grenzen wecken – und dann verletzt man sich selbst, um sich endlich wieder zu spüren und endlich eine Grenze herzustellen.
„Die bewusste Selbstzerstörung als eine Möglichkeit der Freiheit …“ Swetlana Geier: Dostojewski übersetzen, Youtube
Die Beziehung zum Therapeuten kann Spannung abbauen
Häufig kann eine Psychoanalyse helfen. Wenn es in der Therapie gelingt, Vertrauen zum Therapeuten aufzubauen, dann ist es oft auch möglich, die Spannung durch Weinen und Sprechen zu lösen. Oftmals ist das Weinen erst möglich, wenn ein Gegenüber da ist. Es kann lange dauern, doch das selbstverletzende Verhalten lässt oftmals nach, sobald das eigene Selbst wiederzum Leben erweckt und wirklich verstanden wird.
Therapieadressen für Kinder: www.vakjp.de
Therapieadressen für Erwachsene: www.dgpt.de
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Buchtipp:
Joachim Küchenhoff:
Selbstzerstörung und Selbstfürsorge
Psychosozial-Verlag, 1999
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 9.6.2010
Aktualisiert am 1.2.2022
tut nichts zur Sache ;) meint
Das klingt jetzt evntl. doof aber ich habe gerade etwas selber über nich gelernt bzw zum ersten mal war genommen. (Ich bin 26 Jahre jung und selber seit Jahren SVlerin [nicht nur man sagt mir noch ein paar andere „Macken“ nach ;)]) Es stimmt, nach dem schneiden kümmere ich mich meist i.wie „liebevoll“ um mich. Ich konnte mich so gut in das beschriebene Mädchen, ihre Gefühlswelt hineinversetzen das ist unglaublich.
War selber im Heim und spürte beim lesen fast die Enteuschung von dem Mädchen mit, da ich weiß wie weh das tut sich so gleichgültig zufühlen…
Aber ich glaube auch für nicht Betroffene ist dieser Text ein sehr guter Einblick in ich sag mal „unsere Welt“, wo bei die bei weitem nicht immer so düster ist. Kann tat nur für mich persönlich sprechen aber ich bin nicht gerade ein Kind von Traurigkeit ^^, trotz Problem.
Alles Gute :)
I. ein Mensch aus Berlin