
Das „Spalten“ der Menschen mit einer Borderline-Störung wird oft einfach als „unreife“ Abwehrform angesehen. Der Psychoanalytiker Don Carveth (IPA) erklärt in einem seiner Youtube-Videos, warum die Spaltung jedoch der erste reife Schritt der Psyche ist. Er bezieht sich auf die Psychoanalytikerin Melanie Klein, die schon die Spaltung bei Säuglingen beschrieb. Die Psyche kann eine Grenze ziehen zwischen „gut“ und „böse“, zwischen „schwarz“ und „weiß“. Psychotiker könnten dies nicht, erklärt Carveth. In der Psychose ginge das Gute einfach in das Böse über ohne Grenze.
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„Die Welt da draußen ist böse, aber in unserer Familie ist Frieden und Ruhe.“ Auch dieser Satz ist ein typisches Beispiel für „Spaltung“ (engl. „Splitting“). Die Spaltung ist ein sogenannter „primitiver Abwehrmechanismus“ (statt „primitiv“ könnte man auch „früh“ sagen). Wer spaltet, versucht sich von ängstigenden Gefühlen und Verwirrung zu befreien.
Beispiel: Ein Kind, das eine gewalttätige Mutter hat, sieht die Mutter möglicherweise dennoch als „nur gut“ an, weil das Kind kaum damit leben könnte, wenn es auch die „böse Seite“ wirklich wahrnehmen könnte (siehe: „Nichtwissen als Abwehr“). Später, wenn das Kind erwachsen wird, neigt es möglicherweise dazu, sich selbst und andere oft als „nur böse“ oder „nur gut“ wahrzunehmen.
Vielen Menschen fällt es schwer, in anderen und in sich selbst sowohl die „guten“ als auch die „schlechten“ Seiten zu sehen. Ausgeprägte Spaltungsmechanismen findet man häufig bei Menschen, die in der Kindheit Gewalt, überfordernde Trennungen, emotionale Vernachlässigung oder ähnliches erlebten. Insbesondere bei der Borderline-Störung kommt „Spaltung“ häufig vor.
Die Bezeichnungen „horizontale“ und „vertikale“ Spaltung stammen aus der Selbstpsychologie von Heinz Kohut (Mertens/Waldvogel: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Kohlhammer 2008, S. 701).
Wenn man die Bibel unter anderem als eine Beschreibung der Entwicklung der menschlichen Psyche versteht, sieht man auch hier, wie die „Spaltung“ (Differenzierung) der erste Schritt ist:
„Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.“ 1. Mose 1,4
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 13.7.2013
Aktualisiert am 19.1.2021
Jay meint
Ich habe es im Rahmen einer Gruppentherapiesitzung selbst erlebt, welche eine Entrüstung einem entgegen schlägt, wenn man es wagt, die eigene Mutter zu kritisieren.
In meinem Fall reagierten die anderen Teilnehmer im Stuhlkreis fast so, als hätte ich nicht meine, sondern ihre eigene Mutter angegriffen.
Auch die gesprächsführende Therapeutin war der Situation nicht gewachsen und ich kam mir vor wie jemand, der ein gesellschaftliches Tabu gebrochen hätte – dabei hatte ich keine unflätigen Schmähungen, sondern lediglich harte aber sachliche Kritik an meiner Mutter geäußert.
Wahrscheinlich hatte ich den wunden Punkt der anderen Teilnehmer berührt, das hat sie aufgebracht.
Die Neubewertung und das therapeutische Durcharbeiten während der Analyse wareb dagegen der reinste Segen.
Ich finde es tut gut, die eigene Lebensgeschichte aus einem realistischen Blickwinkel neu zu betrachten – das ist besser, als sie bis zur Unkenntlichkeit zu verklären.
Die Mutter bleibt die Mutter, auch wenn sie dadurch ein wenig „menschlicher“ geworden ist.
Klaus-Peter Baumgardt meint
Hier würde ich mir für die vertikale Spaltung noch ein, zwei Beispiele wünschen. Ich glaube auch, welche Seite gerade „regiert“, hängt von den Umständen ab, weniger Gleichzeitigkeit, mehr ein Pendeln.
Aber vom schnellen Wechsel haben Sie ja geschrieben.