Willkommen

Open-Window-Phänomen: Zu wenig Bindung macht kleine Kinder infektanfällig

Ob wir uns einen Infekt einfangen oder nicht, ist auch eine Frage von „Resistenz und Virulenz“. Das heißt einerseits: Je aggressiver ein Virus, desto leichter erwischt er uns („hohe Virulenz“ des Virus). Andererseits heißt es: Je resistenter wir sind, desto schwerer fällt es den Viren, uns anzugreifen („hohe Resistenz“ des Menschen). Wir wissen aus dem Alltag, dass Stress uns anfällig für Infekte machen kann. Diesen Mechanismus bezeichnen Wissenschaftler als „Open-Window-Phänomen“: Das Immunsystem fährt bei Stress herunter und öffnet Keimen Tür und Tor. Kleinkinder geraten besonders dann in Stress, wenn wir Erwachsenen ihnen zu viele Trennungen zumuten müssen. Wenn die Lieblingskindergärtnerin Urlaub hat oder das Kind länger in der Kita bleiben muss, als es verkraften kann, dann wird es infektanfällig.

Das Kind signalisiert: Ich brauche mehr Nähe

Mithilfe eines Infektes holt sich das Kind wieder die Nestwärme, die es braucht. Viele Kinder gehen gerne in die Kita. Manche jedoch zeigen deutlich, dass ihnen die Trennung zu viel ist. Und das ist auch völlig normal bei kleinen Kindern. Und der Mutter geht es oft genauso: Es fällt ihr schwer, sich von ihrem Kind zu trennen und es weinend in der Kita zu lassen. Das ist gesund und keineswegs krank oder symbiotisch, wie viele Mütter befürchten.

Die Psychoanalytikerin Ann-Kathrin Scheerer sagt: Krippenkinder sind infektanfälliger als „Familienkinder“ – das ist lange bekannt, und wird immer noch allzu häufig als ‚willkommene Immunisierung‘ rationalisiert. Man muss aber jeweils differenzieren, ob die Krankheitsanfälligkeit nicht in vielen Fällen eher ein psychosomatisches Stressymptom darstellt.“ (Ann-Kathrin Scheerer: „Krippenbetreuung als ambivalentes Unternehmen“. Psychoanalyse-aktuell, Oktober 2008)

Natürlich fliegen in der Kita besonders viele Keime herum. Die Infektanfälligkeit, die durch „Bindungsmangel“ hervorgerufen wird, sollte jedoch nicht unterschätzt werden – besonders dann, wenn eine Kita personell schlecht ausgestattet ist oder wenn das Personal selbst unter einem schlechten Klima leidet.

Links:

Harriet J. Vermeer & Marinus H. van Ijzendoorn (2006):
Children’s elevated cortisol levels at daycare: A review and meta-analysis.
Early Childhood Research Quarterly, 21, 390-401; doi: 10.1016/j.ecresq.2006.07.004
http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0885200606000421

Hardy AM, Fowler MG (1993):
Child care arrangements and repeated ear infections in young children.
(Division of Health Interview Statistics, National Center for Health Statistics, Hyattsville, MD 20782)
Am J Public Health, September 1993; 83(9): 1321–1325

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Dieser Beitrag erschien erstmals am 28.8.2011
Aktualisiert am 18.11.2022

„Wenn ich unausstehlich bin, dann nimm mich in den Arm“

Körperliche Schäden kann man sehen, psychische auf den ersten Blick oft nicht. Wenn wir psychisch schwerverletzt sind, geraten wir immer in einen Zustand, der uns schrecklich weh tut. Es ist oft kein "normales Wehtun", sondern ein angespannter Zustand. Wir ha...

Dieser Beitrag ist nur für Mitglieder sichtbar.

Jetzt Mitglied werden

Nach der Trennung kommen die Suizidgedanken. Was hilft?

"Der Suizidversuch erfolgte, nachdem sich seine Frau von ihm getrennt hatte", liest man im Klinik-Bericht. "Nachdem mein Freund Schluss gemacht hatte, konnte ich nur noch an Selbstmord denken", sagt eine junge Frau. Doch es gibt auch das Umgekehrte: "Sobal...

Dieser Beitrag ist nur für Mitglieder sichtbar.

Jetzt Mitglied werden

Maligner Neid ist besonders stark bei schlechter Bindung

Neid ist ein ärgerliches Gefühl, das entsteht, wenn eine andere Person etwas für sich selbst Wünschenswertes besitzt oder genießt. So beschrieb es die Psychoanalytikerin Melanie Klein (1957). Beim Neid ensteht der Impuls, dem anderen das Wünschenswerte wegzun...

Dieser Beitrag ist nur für Mitglieder sichtbar.

Jetzt Mitglied werden

Ausgeschlossensein: Unterordnen geht nur bei Zugehörigkeit

"Sie ist immer so rebellisch - sie kann sich gar nicht unterordnen, aber das muss sie lernen", heißt es oft in Schulen und Ausbildungsstätten. Der Blick wird auf den "Rebellen" geworfen. "Warum versteht er/sie nicht, dass 'Unterordnung' auch Geborgenheit heiß...

Dieser Beitrag ist nur für Mitglieder sichtbar.

Jetzt Mitglied werden

Respektvolle Beziehung: „Aber Kinder sind doch keine kleinen Erwachsenen!“

Wann immer es um respektvolle „Erziehung“ von – oder besser: Beziehung zu – Kindern geht, kommt rasch der Spruch: „Aber Kinder sind doch keine kleinen Erwachsenen!“ Dieser Satz hat mich von jeher irritiert. Es ist eine Frage der Haltung: Ich finde es wichtig, mit Kindern so umzugehen wie mit Erwachsenen auch, jedoch unter der Berücksichtigung, dass es eben noch Kinder sind. Wenn ein Kind mich fragt, warum der Himmel blau ist, kann ich nicht mit ausgefeilten physikalischen Berechnungen daher kommen, sondern muss es in kindgerechte Worte fassen. Aber ich erkläre es ihm so, dass es sich ernstgenommen fühlt.

Unsere Kinder können uns ärgern und emotional bis aufs Blut herausfordern. Doch wir können wieder zur Mitte zurückfinden. Es ist wichtig, mit Kindern nur so zu sprechen, wie wir als Erwachsene es auch akzeptieren würden. „Du kommst jetzt ganz schnell weg da! Eins, zwei,…?! Ein bisschen plötzlich, Frollein!“ Wie würden wir reagieren, wenn unser Partner so mit uns spräche? So einen Partner würden wir – wenn wir nicht gerade masochistisch sind – wahrscheinlich bald verlassen.

Erwartungen

Kinder wollen wie jeder Mensch behandelt werden – mit Respekt und Verständnis. Auch wenn wir wütend auf unser Kind sind, können wir respektvoll mit ihm sprechen: „Ich bin müde! Den ganzen Tag habe ich aufgeräumt. Und wenn ich hier über Deine Spielsachen falle, macht mich das wirklich wahnsinnig.“ Und jetzt kommt der spannende Punkt: Können wir damit rechnen, dass ein Kind darauf reagiert? Ja! Und zwar dann, wenn wir uns immer um eine gute Bindung bemüht haben. Wenn wir für das Kind zeitlich ausreichend zur Verfügung stehen. Wenn das Kind uns kennt, dann will es nichts mehr, als dass wir ihm wohlgesonnen sind. Ein Kind will, dass wir es lieben und es will die Liebe der Eltern nicht verlieren. Hier können wir eine Reaktion erwarten wie von Erwachsenen auch: Das Kind wird bemüht sein, in irgendeiner (altersangemessenen Form) auf uns zuzugehen.

Das Gefühl, bei unseren Kindern irgendetwas falsch gemacht zu haben, ist schrecklich. Manche Eltern sind von ihren eigenen Taten traumatisiert. Die Scham hält viele davon ab, Hilfe zu suchen. Doch oft hilft es dem Kind am meisten, wenn die Mutter/der Vater Entlastung finden.

Das Kind reagiert auf uns, wenn wir eine gute Bindung haben

Wenn wir eine gute Bindung zum Kind haben, dann wird es weinen, wenn wir sagen, dass wir wütend geworden sind. Wenn wir ihm zeigen, dass es unsere Grenzen übertreten hat, wird es das spüren und daraus lernen. Unsere Worte kommen bei unserem Kind an. Wenn wir es aber überwiegend respektlos behandeln und unsere Macht ausnutzen, dann wird es nicht unmittelbar auf uns reagieren, sondern sich uns widersetzen.

„Ja, aber wenn ich konsequent bin, dann fühlt es sich doch geborgen, oder?“ Auch hier kommt es wieder auf die innere Haltung an. Es fühlt sich geborgen, wenn der Erwachsene sich tatsächlich erwachsen fühlt, wenn er eine innere Haltung hat, wenn er gelassen umsetzen kann, was er für richtig hält, wenn er dem Kind zeigt, was „richtig“ und „falsch“ ist in dem Wissen, dass jedes Kind auch ein Präkonzept von „richtig und falsch“ in sich trägt.

Konsequenz

Manche Eltern sagen: „Ich dachte hinterher: Drei Tage Fernsehverbot ist echt ein bisschen viel, aber nun hatte ich’s gesagt, nun muss ich es auch durchziehen um der Konsequenz willen.“ Hier wird’s wieder fraglich. Ich würde nicht wollen, dass mir jemand drei Tage lang das Fernsehen verbietet. Mit welchem Recht sollte er das tun? Und wenn sich jemand geirrt hat und in der Wut etwas gesagt hat, was er nicht so meint, freue ich mich über eine Entschuldigung.

Aus der Angst heraus, nicht respektiert zu werden, tun viele Erwachsene lauter Dinge in einer Weise, die das Kind dazu bringt, sie erst recht nicht mehr zu akzeptieren.

So geraten die Erwachsenen in einen Teufelskreis. Am natürlichsten geht es, wenn man sich selbst fragt: „Wie würde ich mich fühlen? Mein Wille ist mein Himmelreich. Der Wille meines Kindes ist auch sein Himmelreich. Mein Körper gehört mir. Und auch der Körper des Kindes gehört dem Kind. Wie kann ich da so mit ihm umgehen, dass es ihm gut geht?“ Die meisten Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Kaum über etwas wird mehr diskutiert als über die „richtige Erziehung“. Vieles wird leichter, wenn man die Erziehung beiseite lässt und sich um eine gute Beziehung bemüht.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Dunja Voos:
Liebst Du mich, auch wenn ich wütend bin?
Was gefühlsstarke Kinder wirklich wollen
amazon

Empfehle: Attachment Journal

Wer sich für Bindung, Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse interessiert, dem sei das "Attachment Journal" (Bowlby Centre) ans Herz gelegt. Das englischsprachige Journal informiert alltagsnah über aktuelle Entwicklungen in Psychotherapie und Relational...

Dieser Beitrag ist nur für Mitglieder sichtbar.

Jetzt Mitglied werden

Psychoanalyse macht abhängig?

Sich unabhängig zu fühlen ist wunderbar. Unabhängigkeit ist das, was die Menschen anstreben. Doch am Anfang jeder Unabhängigkeit steht die Abhängigkeit. "Analytiker machen ihre Patienten von sich abhängig", sagen viele verächtlich. Kürzere Therapien würden vi...

Dieser Beitrag ist nur für Mitglieder sichtbar.

Jetzt Mitglied werden

Repräsentanzen: Selbstrepräsentanz und Objektrepräsentanz

„Repräsentanz“ ist der psychoanalytische Ausdruck für eine innere Vorstellung. Das Bild, das wir von uns selbst haben, wird „Subjektrepräsentanz“ oder auch „Selbstrepräsentanz“ genannt. Andere Menschen, die wir uns vorstellen können, sind „Objektrepräsentanzen“. Die ersten Vorstellungen (Repräsentanzen) von anderen Menschen, die wir normalerweise haben, sind die von Vater und Mutter. Mutter und Vater sind unsere „Primärobjekte“. Sie prägen sehr stark unsere Vorstellung darüber, wie Menschen generell sind. Unsere Eltern hatten auch einen großen Einfluss auf das Bild, das wir von uns selbst entwickelten (Selbstrepräsentanz). Wurden wir von ihnen überwiegend liebevoll behandelt, können wir selbst größtenteils liebevoll auf uns blicken. Waren die Eltern eher feindselig, verachtend, überkritisch oder neidisch, so fällt es auch uns selbst schwer, uns so anzunehmen, wie wir sind. Weiterlesen

Subjekt und Objekt

In psychoanalytischen Texten findet man häufig die Begriffe "Subjekt" und "Objekt". Mit "Subjekt" ist die Person gemeint, um die es geht und deren Gefühle beschrieben werden. Wird zum Beispiel von Nina erzählt, dann ist Nina das Subjekt. Die "Objekte" sind...

Dieser Beitrag ist nur für Mitglieder sichtbar.

Jetzt Mitglied werden