
„Der Suizidversuch erfolgte, nachdem sich seine Frau von ihm getrennt hatte“, liest man im Klinik-Bericht. „Nachdem mein Freund Schluss gemacht hatte, konnte ich nur noch an Selbstmord denken“, sagt eine junge Frau. Doch es gibt auch das Umgekehrte: „Sobald ich in Beziehung bin, möchte ich mich umbringen“, sagt ein junger Mann. Woher kommt es, dass Suizidgedanken, Bindung und Trennung so stark miteinander verbunden sind? Es gibt verschiedene Gründe, aber ein wesentlicher Grund ist anscheinend ein ungeheurer Schmerz, der auf frühe Kindheitserfahrungen zurückgeht.
Trennung ist unglaublicher Schmerz
Wenn wir von einem geliebten Menschen getrennt werden, ist das ein ungeheurer psychischer Schmerz, der dem körperlichen Schmerz in nichts nachsteht. Doch nicht alle Menschen reagieren mit Selbstmordgedanken, wenn sie verlassen werden. Wenn man in die Geschichte der Betroffenen schaut, kann man oft sehen, dass sie als Kind von einer bedeutungsvollen Person übermäßig lange getrennt waren. Dazu kann eine Krankheit als Baby/Kleinkind gehören, bei der das Kind von der Mutter im Krankenhaus getrennt wurde, dazu kann aber auch gehören, dass die Eltern „abwesend“ waren, weil sie z.B. depressiv, alkoholabhängig oder nicht verlässlich genug waren.
Trennungsschmerz kann sich als innere Lähmung äußern.
Reaktivierung
Kommt es zu einer Trennung, wird ein immenser früher Schmerz reaktiviert. Alle Gefühle sind dann wahrscheinlich genauso wieder da, wie sie in früheren Zeiten da waren, als das Kind mit dem Alleinsein und mit der unvorstellbaren Einsamkeit überfordert war.
Wenn man hört, wie Kinder weinen und schreien, wenn sie zu früh im Kindergarten zurückgelassen werden, bekommt man eine Ahnung von dem ungeheuren Schmerz. Der Schmerz ist dann so groß, dass die Betroffenen nichts anderes fühlen können, als diese große Einsamkeit und diese Wunde. Nichts sieht mehr positiv aus, die innere und äußere Welt scheint zerstört zu sein. Wie bei einer schweren körperlichen Krankheit denken die Betroffenen dann: „So will ich nicht weiterleben, das halte ich nicht aus.“
Was hilft?
Was manchmal – gemessen am Ausmaß des Schmerzes – erstaunlich rasch wirken kann, ist die Aktivierung des Bindungssystems. Wenn der Betroffene das Glück hat, auf einen Menschen zu treffen, der ihn ernst nimmt, der bedeutungsvoll ist oder werden könnte und wenn der Betroffene selbst noch eine wenigstens minimale Fähigkeit hat, zu vertrauen und sich zu binden, dann kann der Schmerz gelindert werden.
Oft ist es sehr schwierig, wenn der Betroffene noch nie eine stabile gute Bindung hatte, wie es bei nicht wenigen Patienten am Anfang einer Psychoanalyse der Fall ist. Psychoanalyse kann helfen, das Bindungssystem zu stärken, sodass die Betroffenen leichter neue Verbindungen herstellen können, die auch dann aufgesucht werden können, wenn einer aus dem Bindungssystem, aus dem Netzwerk, herausfällt.
Verbindung jeglicher Art kann für den Anfang helfen
Nun hat nicht jeder Betroffene gleich einen Psychoanalytiker an der Hand. Dann kann vielleicht allein das Wissen um diese Zusammenhänge etwas hilfreich sein. Wenn man Zusammenhänge herstellen kann, warum man so fühlt wie man fühlt, dann kann die Hoffnung wachsen, dass es da auch einen Weg heraus gibt. Bindungen werden in unserer Gesellschaft bei Weitem nicht wichtig genug angesehen.
Man kann jeden Tag damit beginnen, auf seine Bindungen zu achten und sich mit allem möglichen zu verbinden: mit der Natur, mit leckerer Schokolade, mit Charakteren einer Fernsehserie, mit einem Fernseh-Moderator, mit einem Gleichgesinnten, mit dem Diensthabenden der Telefonseelsorge.
Und schließlich kann man auch damit beginnen, zu versuchen, sich dem eigenem Atem zu überlassen, also sich mit dem eigenen Atem zu verbinden. Manchmal fühlt man sich dabei zunächst noch einsamer. Nichts kann einen anderen Menschen ersetzen, aber manchmal können kleine Verbindungen schon helfen, bis eine neue gute Bindung in Sicht ist.
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