„Warum zählen so viele Eltern immerzu bis Drei?“, fragte ich auf Twitter. Die Antwort einer Mutter: „Weil’s funktioniert.“ Ich stelle mir vor, mein Partner würde mich bitten, ihm Kaffee mitzubringen und dann sagen: „Aber ganz schnell! Eins, zweeeiiii …“ Kinder sind zwar nicht erwachsen, aber sie wollen mit demselben Respekt behandelt werden wie Erwachsene. „Eins, zweeeiii …“, sagt die Mutter. „Okay“, sagt das kleine Kind und tut, was die Mutter will. Die Mutter freut sich. Ihr Kind „tanzt ihr nicht auf der Nase herum“. Was aber nur der Außenstehende sieht: In ihrem Kind wächst eine Pflanze der Wut. Natürlich gehorcht das Kind, was soll es auch anderes tun? Es weiß, dass Strafen folgen, wenn es bei Zwei nicht reagiert. Also wählt das Kind das kleinere Übel. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Eine Pflanze der Wut wird genährt
Jedes Mal, wenn Eltern in dieser Weise zählen, wächst im Kind ein Stückchen Wut. Die Mutter kann diese Wut kaum wahrnehmen, denn ihre Befriedigung und Erleichterung sind groß. Doch dieses Zusammenspiel zwischen Mutter und Kind findet Tausende Male statt. Später nimmt das Kind möglicherweise unbewusst an, dass nahe stehende Personen im Grunde genauso mit ihm umgehen. Der Erwachsene „gehorcht“, insgeheim wütend, um Schlimmeres zu verhindern. Mit „1, 2, 3“ wird ein Beziehungsmuster geflochten, unter dem viele Erwachsene noch zu leiden haben. Es ist oft unbewusst geworden – meistens sagen wir dann: „Komisch, und ich tu auch noch, was der mir sagt!“ Der Erwachsene ist an dieser Stelle unfrei geworden, weil sich das „Gehorsam-Spiel“ als Kind unzählige Male wiederholte.
Warten, Beobachten, Verstehen statt Zählen
Das Leben ist nicht leicht und wir haben nicht immer die Zeit, so zu handeln, wie es gut wäre. Aber oft haben wir dennoch die Möglichkeit, es anders zu machen. Die Lösung besteht in ruhigen Momenten darin, das Kind genau zu beobachten, einmal zu warten und es zu verstehen. Manchmal sieht es unsinnig aus, wenn wir unser Kind um etwas bitten und es das nicht sofort tut. Doch Kinder sind innerlich langsam – sie brauchen Zeit. Sie wollen ihre Sache noch beenden, Gedachtes zu Ende denken, die Konsequenzen des Lebens selbst entdecken. Manchmal haben sie auch etwas Sinnvolles vor, das wir nur erkennen, wenn wir warten: Genau dieses Kind, das scheinbar nicht auf seine Mutter hörte, als sie es rief, wollte einfach noch schnell seine Schuhe holen, die die Mutter vergessen hatte. „Ach ja, gut, dass du daran gedacht hast!“ Warten heißt: das Kind verstehen lernen.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 2.7.2013
Aktualisiert am 9.1.2017
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