
Viele kennen diesen Medizinerwitz: „Was ist eine Tautologie? – Schwarzer Rappe, alter Greis, alkoholkranker Chirurg.“ Unter bestimmten Umständen kann man als alkoholkranker Arzt die Berufserlaubnis verlieren. Der körperlich kranke Arzt wird hingegen meistens akzeptiert, der erschöpfte Arzt auch. Aber was ist mit dem psychisch kranken Psychotherapeuten? Lassen sich Parallelen zu den Lehrern ziehen? Bei ihnen war früher die Verbeamtung gefährdet, wenn sie an einer psychischen Erkrankung litten. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Neue Akzeptanz
Inzwischen stellt eine psychische Erkrankung nicht mehr so eine große „Gefahr“ für Lehrer dar: „… jedoch lässt sich aufgrund der zunehmenden Häufung von psychischen Erkrankungen festhalten, dass eine Psychotherapie inzwischen kein generelles Ausschlusskriterium für den öffentlichen Dienst darstellt. Insbesondere eine erfolgreich absolvierte Psychotherapie ohne etwaige Rückfallgefahr dürfte in der Regel zur Verbeamtung führen“ (Beamtenrecht: Psychische Krankheiten und Verbeamtung: https://www.anwalt.de/rechtstipps/beamtenrecht-psychische-krankheiten-und-verbeamtung_047100.html).
„Keinen Rückfall, bitte!“
Was hier zunächst so „offen“ klingt, wird gleich wieder relativiert, indem von der „erfolgreich absolvierten Psychotherapie ohne etwaige Rückfallgefahr“ gesprochen wird. Hier zeigt sich, wie wir immer noch denken: Die Psychotherapie soll ein Ziel haben und eine Störung dauerhaft beseitigen.
Lesetipp: Therapy saved a refugee child. Fifty years on, he’s leading a mental health revolution.
Psychologist Peter Fonagy tells of his own struggles in early life as the Anna Freud charity that he heads opens a major new centre for traumatised children.
Von Jamie Doward and Sam Hall, 27.4.2019
https://www.theguardian.com/society/2019/apr/27/peter-fonagy-refugee-child-psychologist-anna-freud-centre
Psychische Störungen beginnen sehr oft in der frühen Kindheit. Wir tragen diese Wurzeln in uns und woran wir einmal litten, wird sich bei den meisten Störungen immer wieder einmal zeigen. Wir können ja Lebensgefühle durch kurze Therapien nur in geringem Maße und langsam verändern – manchmal gelingt nachhaltige Veränderung nur durch eine Psychoanalyse. Und auch da ist es oft so, dass der psychische Schmerz immer wieder auftreten kann, er dann aber ertragen werden kann, weil man sich infolge der Analyse innerlich getragen fühlt.
Verdrängung aus Angst
Auch Menschen in den verantwortungsvollsten Berufen, wie z.B. Piloten können an Depressionen erkrankt sein und die Medienberichte hierzu spiegeln oft die Ängste der Menschen wider (siehe „ZEIT“, 24.3.2016).
Der Psychiater Dr. med. Christian Dogs hatte eine traumatische Kindheit, litt sehr, war drogensüchtig und leitete später psychosomatische Kliniken.
Der große angstvolle Appell lautet: Die Störung darf nicht zurückkommen! Wir sprechen hier manchmal wie von einem „Rückfall“ zur Alkoholsucht beim Alkoholkranken. Wenn wir einmal psychisch litten, dann möchten wir doch bitte jetzt leidensfrei sein. Diese Haltung schürt die Ängste und verhindert, dass psychisch Leidende einen Psychotherapeuten aufsuchen. Und dieses Dilemma ist bei Psychotherapeuten besonders groß. Ähnlich wie bei der Verbeamtung lautet die bange Frage im Hintergrund: „Kann ich durch eine Depression gar meine ärztliche oder psychotherapeutische Approbation verlieren?“ Dies in der Kombination mit der Vorstellung: „Sobald ich eine Klinik oder Praxis betrete, bin ich psychisch krank“ lässt die Ängste so stark anwachsen, dass sich Psychotherapeuten oft einfach so „durchwurschteln“.
Paula J. Gilroy (University of Northern Iowa) und Kollegen befragten innerhalb einer Studie (2008) eine Untergruppe von 220 Psychotherapeutinnen. Hiervon gaben 76% an, an einer depressiven Störung zu leiden. 85% gaben an, selbst in Psychotherapie zu sein. Die Therapeutinnen sagten, dass sie sowohl positive als auch negative Konsequenzen durch ihre Depression erlebten. Manche berichteten von einer Verbesserung der Beziehung zu Kollegen, andere sagten, dass sie sich stigmatisiert fühlten und dass Kollegen ihnen aus dem Weg gingen.
Der behandlungsbedürftige Therapeut – darf es ihn geben?
Die Psychologin Marsha Linehan (geb. 1943) gründete die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) gegen die Borderline-Störung, nachdem sie selbst unter dieser Störung litt („Marsha Linehan Acknowledges Her Own Struggle With Boderline Personality Disorder“, written by John M. Grohol, World Of Psychology, 7.6.2011).
Der Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1979) war durch den ersten Weltkrieg schwer traumatisiert und litt, wie wir heute sagen würden, an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Er sagte von sich selbst: „I died on August 8, 1918 on the Amiens-Roye Road“ (zitiert aus James Grotsein: A Beam of Intense Darkness, Karnac Books 2007, S. 19).
„Ich weiß ja nicht wie andere das sehen, aber grundsätzlich würde ich als Patient nicht unbedingt zu einem Therapeuten wollen, der sein Leben lang schon selbst psychisch behandelt werden muss. Ich würde ja auch nicht zu einer adipösen Ernährungsberaterin gehen wollen. Warum wollen solche Leute eigentlich immer Psychologie studieren? Zur Selbstheilung?“ Approbation trotz (ehemaliger) psychischer Probleme, studis-online.de, Februar 2014.
Einmal gesund, immer gesund?
Wer Arzt wird, muss nachweisen, dass er körperlich, geistig und psychisch gesund genug ist, um den Arztberuf auszuüben. Erst dann erhält er die Erlaubnis, mit Patienten zu arbeiten (Approbation). Das Attest wird wie ein Führerschein oder eine Eintrittskarte erlebt. Wer sich noch in der Ausbildung befindet, der hat diesen Schein noch nicht in der Hand. Oftmals ist die Sorge hier noch viel größer, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Und wenn die Approbation geschafft ist, taucht immer wieder die Sorge auf, man könnte sie entzogen bekommen.
Alleinerziehende Psychotherapeutinnen sind häufig besonders nahe am Burnout.
Zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Die Europäische Föderation der Psychotherapeutischen Vereinigungen (efpa) schreibt im Kapitel „Integrität“ ihres ethischen Meta-Codes (PDF): 3.4.1: Anerkennung beruflicher Grenzen: Verpflichtung zur Selbstreflexion und Offenheit im Hinblick auf persönliche und berufliche Grenzen. Empfehlung, in schwierigen Situationen professionellen Rat und Unterstützung zu suchen.“
Ducken und Abtauchen, bis es geschafft ist?
Während der Psychotherapieaus- und -weiterbildung müssen die Psychologen und Ärzte eine „Selbsterfahrung“ machen, das heißt, sie gehen auf eigene Kosten zu einem Psychotherapeuten. Was meistens abläuft wie eine normale Psychotherapie hat jedoch zum Glück den schönen Namen „Selbsterfahrung“. Doch Studien (z.B. von Paula Gilroy, 2001) zeigen, dass das für viele Psychotherapeuten (in Aus-/Weiterbildung) offensichtlich nicht auf Dauer ausreicht. Sie haben nach der vorgeschriebenen Sitzungszahl weiterhin Bedarf an Psychotherapie. Die Frage ist: Darf man das äußern? Darf der Psychotherapeut (in Ausbildung) selbst Patient sein oder werden? Muss man sich ducken, bis man die Approbation zur Psychotherapie in der Hand hat?
Psychotherapeutengesetz, § 2, Approbation: „(1) Eine Approbation nach § 1 Abs. 1 Satz 1 ist auf Antrag zu erteilen, wenn der Antragsteller … 3. sich nicht eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich die Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs ergibt, 4. nicht in gesundheitlicher Hinsicht zur Ausübung des Berufs ungeeignet ist.“ (Stand: 12/2016)
Für Psychotherapeuten in Ausbildung wichtig: Psychotherapie-Richtlinie (Stand: 16.2.2017): (3) Psychotherapie ist als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, wenn: … 2. sie nicht der Heilung oder Besserung einer seelischen Krankheit, sondern allein der beruflichen oder sozialen Anpassung oder der beruflichen oder schulischen Förderung dient.
(4)…Psychothereapie ist nur dann und soweit eine Leistung der GKV, als sie der Behandlung von Krankheit im Sinne dieser Richtlinie dient.“
Das Denken ändern
Wer als Patient zum Psychotherapeuten kommt, zeigt: Er kann oft ganz normal berufstätig sein, ja sogar sehr erfolgreich, er ist verheiratet, hat Kinder, bewältigt das tägliche Leben. Für die Krankenkasse muss sich der Therapeut dann auf irgendeine Diagnosenummer für diesen Patienten festlegen. Von da an ist der Patient krankgestempelt. Doch der Patient selbst empfindet sich oft nicht so, weil er eben so lebensfähig ist, aber auf der anderen Seite so leidet. Warum sollte dies bei Psychotherapeuten anders sein?
Auch der Psychotherapeut kann funktionsfähig sein und gleichzeitig leiden. Mütter, die großen Schlafmangel und große Sorgen haben, können ihrem Kind dennoch oft eine „ausreichend gute Mutter“ sein. Die Zeiten sind schwierig, hektisch und belastend geworden. Auch für Psychotherapeuten.
Mitempfinden können
Ein großer Wirkfaktor in der Psychotherapie ist, dass sich der Therapeut gut in den Patienten einfühlen kann. Ein Psychotherapeut, der Leiden kennt, der sich gleichzeitig aber selbst gut gehalten fühlt, z.B. in einer Therapie, kann seinen Patienten verstehen und gut halten. Er ist ihm meistens einige Schritte voraus. Und manchmal eben auch nicht – dies sind dann die Stellen, an denen sich der Patient aufgrund der unfähigen Stellen des Therapeuten nicht weiterentwickeln kann. Aber diese „blinden Flecken“ oder „toten Stellen“ oder wie immer man es nennen mag, gibt es in jeder Psychotherapie (z.B. wenn der Patient unter Geschwisterkonflikten leidet und der Psychotherapeut selbst ähnliche, ungelöste Konflikte mit seinem Bruder hat, oder wenn der Therapeut Einzelkind ist).
Psychotherapeuten in Psychotherapie
Die Ärztin Dr. med. Maxi Braun (Uni-Klinik Ulm) und Kollegen führten 2010 auf dem Kongress der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) eine Umfrage unter 1089 Kongressteilnehmern (26-69 Jahre, knapp 50% = weiblich) durch. Zu diesem Zeitpunkt waren 4% der Befragten selbst in einer Psychotherapie. 30% waren während der Ausbildung selbst auch als Patient in der Psychotherapie. 42% hatten mindestens eine depressive Phase erlebt.
„Auch der geschulte Blick für die eigenen Schwächen fördere die Niedergeschlagenheit, berichtet das Team um Maxi Braun vom Universitätsklinikum Ulm im Fachjournal „Psychotherapy and Psychosomatics“ (doi: 10.1159/000319531).“
„Die Wissenschaftler vermuten, dass die immense psychische Belastung, der Psychiater und Psychotherapeuten ausgesetzt sind, zu einem erhöhten Risiko für Depressionen führt. Vor allem die Behandlung von selbstmordgefährdeten und aggressiven Patienten belaste sehr. Gleichzeitig nehmen Psychiater den eigenen seelischen Zustand bewusster wahr und sind feinfühliger, wenn es darum geht, sich selbst zu beobachten. Dadurch fallen ihnen ihre eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen besonders deutlich auf, so die Annahme der Forscher.“
http://www.rp-online.de/leben/gesundheit/psychotherapeuten-sind-oft-depressiv-aid-1.2320125
RP-Online, 26. November 2010 | 18.44 Uhr
Studie: Psychotherapeuten sind oft depressiv (DDP)
Ängste erkennen und bearbeiten
Psychotherapie ist für leidende Psychotherapeuten vielleicht ganz besonders wichtig. Langsam entwickelt sich das Denken bei vielen in diese Richtung. Die Angst ist jedoch immer wieder eine große Bremse – sowohl bei Therapeuten („Verliere ich meine Berufserlaubnis?“) als auch bei Patienten („Hat mein Therapeut selbst eine Macke? Besetzt er mich narzisstisch? Zieht er mich mit seiner Depression hinab?). Es ist wichtig, über diese Ängste zu sprechen. Privat und öffentlich.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
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- Sandor Ferenczi: „Ohne Sympathie keine Heilung“
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- Psychoanalytiker und Psychotherapeuten stellen oft sehr hohe Ansprüche an sich selbst
- Psychotherapeutengesundheit
Literatur:
Nervenheiler kämpfen oft selbst mit Depressionen
Veröffentlicht am 27.11.2010
https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article11238994/Nervenheiler-kaempfen-oft-selbst-mit-Depressionen.html
Braun M et al. (2010)
Letter to the Editor:
Depression, burnout and effort-reward imbalance among psychiatrists
Psychother Psychosom 2010; Vol. 79 No 5: 326–327
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20689352
https://doi.org/10.1159/000319531
Paula J. Gilroy et al. (2001):
Does depression affect clinical practice? A survey of women psychotherapists
https://www.researchgate.net/profile/Paula_Gilroy
University of Northern Iowa, https://counseling.uni.edu/staff
Confessions of a depressed psychologist: I’m in a darker place than my patients
The Telegraph, By Anonymous, 8.2.2016
http://www.telegraph.co.uk/health-fitness/body/i-was-an-nhs-psychologist—but-i-suffered-from-depression/
Anne Cooke and Jay Watts:
We’re not surprised half our psychologist colleagues are depressed
The Guardian, 17. Februar 2016
https://www.theguardian.com/healthcare-network/2016/feb/17/were-not-surprised-half-our-psychologist-colleagues-are-depressed
Press Release: 3.2.2016:
Psychological therapies staff in the NHS report alarming levels of depression and stress – their own
(PDF) www.bps.org.uk/system/files/Public%20files/Comms-media/press_release_and_charter.pdf
Helen Barnett (9.2.2016):
New Savoy Partnerschip Charter and survey results
http://www.bps.org.uk/networks-and-communities/member-microsite/dcp-leadership-and-management-faculty/news/new-savoy-partnership-charter-and-survey-results
Noel Hunter (2015):
Clinical Trainees’ Personal History of Suicidality and the Effects on Attitudes Towards Suicidal Patients
The New Scool Psychology Bulletin, Vo 13, No 1 (2015)
http://www.nspb.net/index.php/nspb/article/view/263
Paula J. Gilroy (August 2002):
A Preliminary Survey of Counseling Psychologists‘ Personal Experiences with Depression and Treatment
DOI: 10.1037/0735-7028.33.4.402
https://www.researchgate.net/publication/232535951_ …
Paula J. Gilroy EdD , Lynne Carroll Phd & Jennifer Murra MA, NCC:
Does Depression Affect Clinical Practice?
A Survey of Women Psychotherapists
Pages 13-30 | Published online: 13 Oct 2008
http://dx.doi.org/10.1300/J015v23n04_02
http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1300/J015v23n04_02:
„A subset of the membership of the Association for Women in Psychology (AWP) was surveyed concerning therapists‘ experiences with depression and its treatment. Of 220 respondents, 76% reported some form of depressive illness. Eighty-five percent of respondents indicated that they participated in personal therapy. When evaluating their clinical work, respondents reported both positive and negative consequences resulting from their depression. While some respondents noted improvement in collegial relationships, many felt judged and avoided.“
Jennifer L. Bearse (2013):
Barriers to Psychologists Seeking Mental Health Care
Professional Psychology: Research and Practice, © 2013 American Psychological Association
Vol. 44, No. 3, 2013: 150 –157, DOI: 10.1037/a0031182
http://www.apa.org/pubs/journals/features/pro-a0031182.pdf:
„Most mental health professionals seek personal psychotherapy at least once in their careers (Phillips, 2011), and at a much higher rate than the general adult population (Norcross & Guy, 2005).“
Dieser Beitrag erschien erstmals am 2.9.2017
Aktualisiert am 3.5.2019
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