
Manche Menschen haben eine quälende Angst vor der Unendlichkeit. Sie haben Angst, ewig leben zu müssen. Sie stellen sich vor, dass der Tod weder Erlösung noch Ende ist. Den Betroffenen mangelt es an der Vorstellung von Ruhe. In einem Online-Forum schrieb eine junge Frau: „Der Gedanke daran, dass das alles keinen Anfang und kein Ende hat, macht mich einfach fertig.“ Woher kommt diese Angst vor der Unendlichkeit und welche Vorstellungen können helfen? (Text: Dunja Voos; Bild: Julia)
Ohne Halt, ohne Grenze
Wenn man sich so fühlt, als hätte man selbst keine Grenze, wenn man zu wenig Halt hat, wenn niemand da ist, der einen hält, kann ein unangenehmes Gefühl von Unendlichkeit aufkommen. Wer keine „Be-Ziehung“ hat, der fühlt sich unangenehm losgelöst. Menschen, die in der Kindheit nicht geborgen waren, fehlt häufig die Erfahrung, dass Beziehungen haltgebend sind. Sie haben das unangenehme Gefühl, zu schweben.
Eine Gewalterfahrung kann das Gefühl von Ewigkeit auslösen.
Menschen, die – insbesondere früh im Leben von nahestehenden Menschen – Gewalt erfahren haben, können unter der Angst vor Ewigkeit leiden, weil die Gewaltsituation selbst scheinbar zeitlos ist.
Im Alter kann es besser werden
Oft werden junge Menschen von der Angst vor der Unendlichkeit gequält – wenn sie körperlich gesund und voller Energie sind, können sie sich auf eine unangenehme Weise unsterblich fühlen. Es sind insbesondere auch Menschen betroffen, die sich als Kind nie abgrenzen durften und wo es zwischen den Familienmitgliedern keine Grenzen gab. Das heißt, die Eltern dieser Kinder durchbrachen immer wieder die persönlichen Grenzen ihrer Kinder, z.B. durch Drohungen, Gewalt oder Missbrauch. So konnte das Kind nicht die Erfahrung des Abgegrenztseins machen. Auf unangenehme Weise fühlt es sich, als sei es mit allem und jedem grenzenlos verbunden.
Eine unsterbliche Seele?
Viele stellen sich vor, dass der Mensch einen sterblichen Körper, aber eine unsterbliche Seele habe. Dadurch kann sich die Angst vor der Unendlichkeit verstärken. Kirchenbesuche, in denen über das ewige Leben gepredigt wird, können hier zum echten Problem werden. Andere Menschen haben die Vorstellung, dass auch die Seele sterblich ist. Wieder andere stellen sich vor, dass Körper und Psyche eng zusammenhängen, dass es aber einen davon unabhängigen Geist gibt, der uns atmen und leben lässt.
Die Angst vor dem Leben nach dem Tod hängt mit der Frage des Bewusstseins zusammen. Der Mathematikprofessor Marcus du Sautoy aus Oxford hat hierzu eine wunderbare BBC-Dokumentation gedreht mit der Frage: „Bin ich ich?“ (BBC: Just what does make me ‚me‘?).
Die Angst vor der Unendlichkeit hängt zusammen mit der Frage „Wer bin ich“?
Manches verliert seinen Schrecken dadurch, dass uns etwas bewusst wird. Anderes wird uns erst gerade durch die Bewusstwerdung zum Schrecken. Das Erschreckende müssen wir erst einmal verdauen. Die Unendlichkeit macht vielen Menschen dann Angst, wenn sie wach sind und darüber grübeln, aber eher selten, wenn sie schlafen. Im Schlaf ist das wache Bewusstsein ausgeschaltet. Die Angst vergeht. Also könnte man auch sagen: Das Bewusstsein ist das Problem. Das Grübeln über die Unendlichkeit ist das Problem.
Natürlich führen sich Zahlen bis ins Unendliche fort und man könnte, rein theoretisch, bis ins Unendliche zählen, aber die Grenze ist doch deutlich: Das Zählen ermüdet uns und dadurch kommen wir eben nur so weit, wie wir kommen. Wir hören einfach irgendwann mit dem Zählen auf.
Sind Nahtoderfahrungen ein Beweis für die Unendlichkeit?
Menschen mit Nahtoderfahrungen schwärmen oft davon, wie wunderbar sie sich gefühlt haben, als sie klinisch tot waren. Aber es gibt auch Menschen mit Nahtoderfahrungen, die sich wie in einem Horrorfilm gefühlt haben – von ihnen hört man seltener.
Wohl die meisten Betroffenen haben während notfallmedizinischer Behandlungen Nahtoderfahrungen gemacht. Ich möchte die Erfahrungen der Betroffenen nicht schmälern, aber ich möchte hier auch beruhigende Argumente finden für diejenigen, für die die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod nur schrecklich ist. Die Medikamente, die ein Patient während einer Wiederbelebung bekommt, können im Gehirn viele Empfindungen hervorrufen. Wer einmal das Narkosemedikament Propofol bekommen hat, weiß, wie gut man sich fühlen kann. Der Sterbeforscher Gian Domenico Borasio schreibt in seinem Buch „Über das Sterben“, dass er bei seinen Beobachtungen von Sterbenden keine Hinweise auf Nahtoderfahrungen finden konnte.
Wir tragen das Gefühl der Unsterblichkeit in uns
Unser Unbewusstes ist (relativ auf unser Leben bezogen) „unsterblich“ bzw. „unendlich“. Es enthält Angeborenes, aus der frühesten Kindheit Eingeprägtes und später auch Verdrängtes. Als Baby und Kleinkind haben wir kein Zeitgefühl – Momente erscheinen wie Ewigkeiten. Zu Beginn des Lebens wird ein Lebensgefühl installiert. So, wie wir uns in der vorsprachlichen Zeit fühlten, so fühlen wir uns manchmal noch als Erwachsene. Hatten wir eine bedrohliche Kindheit, ist dieses Unendlichkeitsgefühl dann mit Bedrohung verknüpft.
Das Unendlichkeitsgefühl ist eng verbunden mit dem – wie Freud es nannte – „ozeanischen Gefühl“ der Grenzenlosigkeit. „Diese immer regen, sozusagen unsterblichen Wünsche unseres Unbewussten … – diese in der Verdrängung befindlichen Wünsche, sage ich, sind aber selbst infantiler Herkunft.“
Sigmund Freud, Traumdeutung, Psychologie Fischer, 2003, S. 544
Die Grenze spüren, sich wieder sterblich fühlen
Manche alte Menschen sagen, dass sie in jungen Jahren den Tod (und das mögliche Leben danach) sehr viel mehr fürchteten als im Alter. Möglicherweise fühlt man sich im Alter gebrechlicher und man spürt die Grenze deutlicher. Vielleicht hat man auch genügend haltgebende Beziehungen erlebt und man kann leichter loslassen.
Die Angst vor der Unendlichkeit kann nämlich paradoxerweise einen großen, aber vielleicht unterdrückten Lebenshunger widerspiegeln. Viele alte Menschen glauben nicht an ein Leben nach dem Tod oder an ein unendliches Leben. Wer Angst vor der Unendlichkeit hat, dem geht es möglicherweise besser, sobald er sich wieder sterblich fühlt und einen festen Boden unter sich spürt. Sobald er in Kontakt ist zu seinen wahren Gefühlen und sobald er versteht, dass dieser Grundschmerz, den er vielleicht spürt, nicht ewig weitergeht, sondern irgendwann endet, geht es ihm besser.
Körperliche Reize helfen
Wenn wir eine dicke Erkältung haben, kann uns die Unendlichkeit auf einmal ganz egal sein. Der Begriff „Ewigkeit“ lässt uns an eine unendliche Zeit auf einem Zeitstrahl denken. Das macht vielen Angst. Der englische Begriff „Eternity“ ist da vielleicht hilfreich, denn er leitet sich vom „Äther“ ab, also von etwas, das uns sozusagen umgibt. Das Wort „Eternity“ erweckt eher die Vorstellung eines „Nestchens“.
Das Unendliche in uns
Wer Angst vor der Unendlichkeit hat, dem helfen vielleicht die Vorstellungen des Psychoanalytikers Wilfred Bion (1897-1979). Er beschäftigte sich mit dem Unendlichen in uns selbst. Vereinfacht gesagt stellt das Unbewusste das Unendliche dar und das Bewusste das Endliche. Bion beschrieb es ungefähr so, dass in uns selbst unendlich viele unbewusste Eindrücke sind, sozusagen Vorläufer von Gefühlen (Beta-Elemente). In uns spüren wir sozusagen etwas Göttliches, eine große Tiefe, etwas Unfassbares. Bion führte in diesem Zusammenhang den Gedanken von „O“ ein, womit er unter anderem „Wahrheit“ meinte.
Die Beta-Elemente der Psyche können zu reifen, handhabbaren Alpha-Elementen werden, wodurch das, was vorher „unendlich“ war, endlich wird.
Aus einer spürbaren „unpersönlichen Wahrheit“ wird sozusagen eine „persönliche“ emotionale Wahrheit. Diese Umwandlung von Beta- in Alpha-Elemente geschieht am Anfang des Lebens insbesondere durch die Mutter – solange, bis wir es selbst können und selbst eine sichere „Alpha-Funktion“ entwickelt haben. Vielleicht haben Menschen mit einer großen Angst vor der Unendlichkeit zu wenig von dieser mütterlichen Alpha-Funktion erlebt und können in der Folge auch bei sich selbst Beta-Elemente schlechter in Alpha-Elemente umwandeln.
Literaturhinweis:
James Grotstein: Bion’s Transformation in „O“ and the Concept of the Transcendent Position:
„Beginning with Winnicott’s (1954) concept of ‚chaos‘ and Bion’s (1965) concept of ‚O‘, as well as Matte-Blanco’s (1975, 1988) concept of infinite sets, we begin to see a post-modern revision of the picture of the fundamental nature of the Unconscious. The ‚deep and formless infinite‘ is its nature. It is dimensionless, infinite, and chaotic, or, in Matte-Blanco’s terms, symmetrical and infinitized.“
(Frei übersetzt:) „Wenn wir an Winnicott’s (1954) Chaos-Konzept, an Bion’s (1965) Konzept von ‚O‘ und an Matte-Blancos (1975, 1988) Konzept der unendlichen Sets/Mengen denken, merken wir, wie wir damit beginnen, die grundlegende Natur des Unbewussten neu zu verstehen. Das ‚tiefe und formlose Unendliche‘ ist seine Natur. Das Unbewusste ist das Dimensionslose, das Unendliche und Chaotische, oder, mit Matte-Blancos Worten, das Symmetrische und ‚ver-Unendlichte‘.“
„In other words, Bion’s picture of the Unconscious, along with that of Winnicott and Matte-Blanco, conveys an ineffable, inscrutable, and utterly indefinable inchoate formlessness that is both infinite and chaotic–or complex–by nature. It is what it is and is always changing while paradoxically remaining the same.“ (www.sicap.it/merciai/bion/papers/grots.htm)
„Anders gesagt: Bion’s Bild vom Unbewussten, zusammen mit den Vorstellungen von Winnicott und Matte-Blanco, zeichnet das Bild einer nicht greifbaren und undefinierbaren Formlosigkeit, die von Natur aus beides ist: unendlich und chaotisch bzw. komplex. Das Unbewusste ist, was es ist und es verändert sich ständig, während es paradoxerweise immer das Selbe bleibt.“
Sie sind mit Ihrer Angst vor dem Leben nach dem Tod nicht allein.
Schon Fjodor Dostojewski (1821-1881) beschreibt in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ (Anaconda-Verlag 2010: S. 87) eine Frau, die sich an einen Mönch wendet und sagt:
„… alles, worunter ich leide, schon lange, lange leide! Ich leide, verzeihen Sie mir, ich leide … das zukünftige Leben, das ist mir ein Rätsel. Und niemand kann es mir lösen, dieses Rätsel! … dass mich vielmehr der Gedanke an ein Leben nach dem Tod aufregt bis zu tatsächlichem Leiden, ja bis zu Schrecken und Angst … Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. … Ich stehe da und sehe, dass allen oder fast allen ringsum mich her die ganze Sache gleichgültig ist und dass niemand sich darum Sorge macht – nur ich kann das nicht ertragen. Das richtet mich zugrunde…“ Der Mönch rät ihr dann zur „tätigen Liebe“: „Bemühen Sie sich, Ihren Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben!“
In einer Psychoanalyse kann die Angst vor der Unendlichkeit bzw. vor dem „ewigen Leben“ möglicherweise verstanden und dadurch bedeutend gelindert werden.
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Literaturtipp:
Alessandra Ginzburg and Riccardo Lombardi:
Emotion as Infinite Experience: Matte Bianco and Contemporary Psychoanalysis
Franco Angeli, Milan, 2007; 311 pp.
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdf/10.1111/j.1745-8315.2008.00106_8.x
Pietro Bria and Riccardo Lombardi:
The logic of turmoil: Some epistemological and clinical considerations on emotional experience and the infinite
Int J Psychoanal (2008) 89:709–726
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18816337
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 2.1.2014
Aktualisiert am 7.12.2019
Jay meint
Dieses „ozeanische Gefühl“, mit allem verbunden zu sein, beschreibt
Freud als frühesten Bewusstseinszustand des Neugeborenen, also quasi als Ausgangspunkt der
frühkindlichen Entwicklung, zu Beginn der oralen Phase.
Man könnte vermuten, dass bereits hier, durch wenig empathisch veranlagte Eltern, die
Störung bereits beginnt.
Ich beschäftige mich viel mit Zen-Buddhismus.
Dieser hat nichts mit dem Esoterik-Buddhismus zu tun, der unter anderem im Westen
vom Dalai Lama verkörpert wird, sondern er ist eher eine Philosophie, eine spezielle Art
die Realität zu betrachten.
Zen kappt die Verstrickungen mit der Vergangenheit und die Befürchtungen über die
Zukunft und betrachtet den gegenwärtigen Augenblick als Momentaufnahme, befreit von
Konzepten und jeglichen Gedankengebäuden.
Dies kann wirklich sehr befreiend sein.
Auf die Frage „Was passiert in der Unendlichkeit?“
würde ein Zen-Meister seinem Schüler höchstens antworten:
„Frag mich nochmal, wenn wir dort angekommen sind.“
nadine meint
Ich leide an einer angststörung und eigentlich gehts mir auch wieder ganz gut. Seit ein paar Tagen aber beschäftige ich mit diesem Thema. Ich glaube eigentlich nicht richtig an gott. aber bisher hat mir ein etwaiges Leben nach dem Tod eher Geborgenheit vermittelt. Aber für immer, selbst wenn es glücklich und selig ist, das macht mir Angst.
Peter Reitz meint
Hallo Frau Voos,
es ist schön, Ihre Zeilen zu dem Thema zu lesen. Das hier auch eine „Diagnose“ gestellt
werden kann, finde ich fast schon komisch… ;-)
Herzliche Grüße,
Peter Reitz
Dunja Voos meint
Mein Herz würde bei dieser Vorstellung komplett zugehen ;-) Daher gibt es wohl auch so viele verschiedene Religionen, weil sich jeder Mensch etwas anderes wünscht und ein jeder etwas anderes braucht.
Anette meint
Meine Assoziationen über das ewige Leben sind nur positiv besetzt und gehen über das Geschriebene hinaus: Liebe, Geborgenheit bei Gott, Gerechtigkeit, Schutz, glücklich sein, Freude, …
Also das Beste, dass ich mir vorstellen kann ewiglich. Da geht mein Herz auf. :-)
Dunja Voos meint
Aber „ewig“? Immer, immer weiter, ohne Ende? Das wäre für mich eine furchtbare Vorstellung. Selbst, wenn’s ruhig ist ;-)
Ich finde immer ganz schön, dass der englische Begriff für „Ewigkeit“ „Eternity“ lautet. Dieser wiederum hängt mit „Ether“ zusammen, also mit etwas, das einen einfach umgibt, das einfach da ist, wie so ein Bettchen …
Anette meint
Ewiges Leben kann auch etwas sehr Befreiendes sein, eine Hoffnung, dass alles gut wird und dass es einmal Ruhe und Geborgenheit geben wird.