Markiertheit der Mimik – warum wir mit Babys übertrieben sprechen

Was ein Baby fühlt, zeigt es mit seiner Mimik. Die Mutter/der Vater reagieren darauf mit einem ähnlichen Gesichtsausdruck. Die Mutter spiegelt dem Baby das zurück, was es ihr zeigt. So sieht sich das Baby fast wie in einem Spiegel. Nun ist es aber wichtig, dass die Mutter irgendwie zeigt, dass das, was das Baby gerade fühlt, nicht unbedingt ihr eigenes Empfinden ist. Um diesen Unterschied zu zeigen, „markiert“ sie ihre Mimik: Sie übertreibt den verstehenden Gesichtsausdruck. Diese Übertreibung wird „Markiertheit“ genannt. Das Baby bemerkt die Übertreibung. So fühlt es sich verstanden und merkt gleichzeitig, dass die Mutter ein anderer Mensch mit eigenen und anderen Empfindungen ist.

Was als markierte Spiegelung der Gesichtsausdrücke beginnt, setzt sich im Kleinkindalter im Spiel fort. Hier übertreiben die Eltern die Kommentare zum Spiel des Kindes: „Ohh, sooo einen großen Turm hast Du gebaut?“ oder „Waaaas, Du willst mich erschießen?“ So begreift das Kind, dass Spiel und Wirklichkeit unterschiedliche Dinge sind und dass sich auch Wünsche und Taten voneinander unterscheiden. Es versteht den „Als-ob-Modus“. Mit der Zeit erfährt das Kleinkind durch die Kommunikation mit den Eltern, dass es ein eigenes Menschlein mit eigenen Ideen und Gedanken ist. Es entdeckt sich selbst und lernt, über sich selbst und andere nachzudenken (Mentalisierung).

Wenn das Markieren fehlt

Wenn die Mutter zwar dem Baby spiegelt, was es fühlt, aber ihren Gesichtsausdruck nicht markiert, dann kann sich das Baby überwältigt fühlen. Es fühlt sich möglicherweise so, als würde es die Mutter und auch die ganze Umwelt mit seinen Gefühlen anstecken. Dann erscheinen dem Baby die eigenen Affekte gefährlich. Das passiert natürlich nicht bei gelegentlichen Unaufmerksamkeiten, sondern nur, wenn die fehlende Markierung ein Dauerzustand ist. Und auch hier gibt es sehr viele verschiedene Ausprägungen, die mit dem Temperament von Mutter und Kind zusammenhängen. Befindet sich die Mutter gerade im selben Zustand wie das Baby, ist die Spiegelung automatisch anders. Wenn ich mich als Mutter erschrecke und mein Baby erschreckt sich auch, kann ich meinen Gesichtsausdruck als Mutter natürlich nur schwer „markieren“ – dann kann ich mitfühlend schauen.

Wenn die Mutter die Affektausdrücke des Säuglings so gut wie gar nicht wiedergibt, dann kann das Kind später seine inneren Zustände vielleicht nur schwer benennen (Alexithymie). Die eigenen Gefühle verwirren das Kind – es kann sie nur schwer wahrnehmen, benennen, ausdrücken und dosieren. Das kann die Folge von lang andauernden Kommunikationsproblemen sein, insbesondere auch, wenn der Säugling nur eine einzige Bezugsperson hat. Die Beziehung zu einer weiteren gesunden Bezugsperson kann die schwierigen Folgen fehlenden Verstehens abmildern.

Verwandte Artikel:

Links:

Mother-Infant-Communication
Mikroanalysen der Mutter-Kind-Kommunikation
Forschungsarbeiten und Videos von Beatrice Beebe
https://www.beatricebeebe.com/home

Peter Fonagy, György Gergely et al.:
Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst.
Klett-Cotta, Stuttgart 2004, 8. Auflage 2022

Dunja Voos:
Liebst Du mich, auch wenn ich wütend bin?
Was gefühlsstarke Kinder wirklich wollen
amazon

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 22.5.2007
Aktualisiert am 28.3.2024

2 thoughts on “Markiertheit der Mimik – warum wir mit Babys übertrieben sprechen

  1. Dunja Voos sagt:

    Liebe Katharina, das freut mich! Viel Freude weiterhin beim Lesen und mit Deinem Kätzchen ;-)

  2. Katharina Lipskoch sagt:

    Liebe Dunja, ich lese mich gerade fest an deinen Texten zur Kindheit. Unglaublich spannend und toll! Ich komme jetzt öfter her.

Schreibe einen Kommentar