
Wenn kleine Kinder das Wort „Kreislaufprobleme“ hören, denken sie, da hätte jemand Probleme damit, im Kreis zu laufen. Kleine Kinder haben ein „konkretistisches“ Denken. Redensarten und Wortbilder (Metaphern) zu verstehen, gelingt ihnen erst im Laufe ihrer Entwicklung. So ist es mit psychotischen Patienten oft auch: Sie nehmen alles wörtlich und meinen das, was sie sagen, ebenfalls wörtlich.
Der Psychoanalytiker Harold F. Searles beschreibt es so:
„Es ist, als müsse der Patient – und analog zu ihm das gesunde kleine Kind – zunächst auf den primitiveren Beziehungsebenen Kontakt mit dem Therapeuten (beziehungsweise mit dem Elternteil) unterhalten und sich dieser Kontaktmöglichkeit sicher sein, bevor er jenes umfassendere Gefühl der Abgetrenntheit ertragen kann, dem er sich, will er zu immer abstrakteren Modi des Denkens und der interpersonalen Kommunikation gelangen, stellen muss.“
Harold Searles:
Der psychoanalytische Beitrag zur Schizophrenieforschung, Psychosozial-Verlag, 2008, S. 198
Manchmal kehren Patienten von der Fähigkeit, abstrakt zu denken, zur konkretistischen Denkweise zurück. In ihrem psychischen Leid regredieren sie. Ähnlich kennen wir es auch: Wenn wir gerade psychisch geschwächt sind und jemand möchte mit uns über unsere Situation nachdenken, dann gehen wir unter Umständen schnell in die Luft, weil wir nur Gedachtes schnell konkret nehmen: „Du könntest ja auch mit der Ausbildung aufhören“, hören wir und lassen die Aussage direkt konkret auf den Boden krachen: „Ich werde sicher nicht aufhören! Du willst ja gar nicht, dass ich die Ausbildung mache!“, schreien wir dann aufgebracht zurück. Dabei war es nur ein Gedanke.
Doch Searles schreibt auch: “ … doch es gibt auch Patienten, die, das spürt man, überhaupt noch nie (auch nicht vor dem Manifestwerden ihrer Schizophrenie) zu einer vollständigen Differenzierung zwischen metaphorischem und konkretistischem Denken gelangt sind.“ (S. 201)
Searles schreibt, dass, wenn man Psychotiker verstehen will, manchmal innerlich ein „wie“ einfügen muss. „Meine Schwester ist ein Aschenbecher“, sagt ein Psychotiker vielleicht. Es ergibt mehr Sinn, wenn wir verstehen: „Meine Schwester ist wie ein Aschenbecher.“
In Christopher Bollas‘ Buch: „Wenn die Sonne zerbricht“, ist jedoch auch zu lesen, dass psychotische Patienten manchmal innere Eigenschaften, Gefühle oder innere Objekte in äußere Gegenstände hineinprojizieren. „Meine Schwester ist ein Aschenbecher“ könnte dann so verstanden werden, dass der Psychotiker seine Schwester (ein inneres Objekt) darin hineinprojiziert hat. Also wenn der Aschenbecher wegkommt, dann ist quasi auch die Schwester weg.
Harold F. Searles:
Der psychoanalytische Beitrag zur Schizophrenieforschung
Psychosozial-Verlag 2008
(Neuauflage der Ausgabe von 1974, Kindler Studienausgabe)
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Interessant hierzu auch:
Mira Manuela Hensler:
Sind konkretistische Denkstörungen eine homogene Entität?
Untersuchungen zum Verständnis nicht-wörtlicher Sprache bei schizophrenen Patienten
Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen 2009
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am: 28.1.2012
Aktualisiert am: 10.11.2019
Fips meint
Weitere Variante als Abwehrverhalten:
Jemand versteht eine Frage durchaus abstrakt, bemerkt bzw. sucht auch danach, daß man es auch wörtlich verstehen kann. Derjenige antwortet dann nicht auf die abstrakt gemeinte Frage, sondern auf die wortwörtliche hinverstandene. Man wählt bewußt aus, versteht aber an sich nicht falsch.
Das ermöglicht in manchen Fällen, daß man nicht die Unwahrheit sagen muß. Die Antwort für die wortwörtlich genommene Frage ist wahr. Manchen ist es sehr wichtig, daß sie wahr sprechen, sie weichen eher aus, antworten nicht, als daß sie bewußt was Falsches sagen. Auf abstrakt konkretisch zu antworten ist da eine Art … tja… Notwahrheit vielleicht. Manch einer macht das bei prekären Fragen und bei denen eine Nichtantwort eine Aussage gewesen wäre oder ein Ausweichen ebenso zu hinweislich.
Sinnkope meint
Leider ist ihnen ein nicht mal kleiner Fehler unterlaufen. Sehr richtig schreiben Sie, Kinder könnten nur konkret denken. Sie denken nur konkret, weil sie eben noch nicht abstrakt denken können. Das Abstraktionsvermögen, wenn wir das jetzt mal so nennen, braucht auch lange Entwicklungs- und Ausbildungszeit, dennoch sollte es bei den Erwachsenen einigermaßen entwickelt sein. Zu den Leistungen der Abstraktionsfähigkeit gehört, von den konkreten kindlichen Bedeutungen von Wörtern und Wendungen absehen zu können; beispielsweise bei dieser Formulierung, ohne die unsere tägliches Miteinander schlechterdings nicht vorstellbar wäre: Wie geht’s? Der Erwachsene, der da an das konkrete Gehen denkt und etwa antwortet: „Ich gehe doch gar nicht, ich sitze“, dem würde man konkretistisches Denken attestieren. Zu beachten wäre aber, daß dieses (Sprach-)verhalten weniger im Alltag von Bedeutung ist, als vielmehr in therapeutischen Zusammenhängen, und da auch am wenigsten beim Psychotiker, sondern generell in Therapien. Konkretismus ist nämlich als Abwehrverhalten anzusehen, und es gibt wohl kaum jemanden mit therapeutischer Erfahrung, der sich bei bedrängenden Konflikten nicht aus Not in konkretistisches Verstehen und Verhalten geflüchtet hätte. Erst wenn sich dieses konkretistische Denken so sehr petrifiziert hat, daß anderes Verhalten fast nicht mehr möglich scheint und Menschen in Isolation und Beziehungslosigkeit treibt oder getrieben hat, kämen wir zu den psychotischen Krankheitsbildern.
So wahr also der erste Teil des Satzes ist, so falsch der zweite: Kinder „haben ein “konkretistisches” Denken“, nicht nur weil es abwegig ist, zu sagen, jemand habe ein Denken – kann man Denken überhaupt haben, so wie Masern oder Ideen oder ein Auto? – hat man nicht eher einen Dachschaden? – vielmehr noch, weil konkretistisches Denken eher gar kein Denken, denn ein seelisches Ausweichmanöver in konfliktträchtigen Situationen oder Beziehungen ist, ein Ausweichen vor schmerzlichen, oft sehr schmerzlichen Einsichten in das eigene nicht immer gute, wunschgemäße Tun und Lassen ist.
Zum Abschluß noch ein Zitat von Lessing, d.h. eigentlich von mir, denn ich zitiere Lessing, ein Zitat von Lessing wäre das, was Lessing zitiert, oder?
Fragt ein Blinder den Lahmen: Wie geht’s? Antwortet der Lahme: Das sehen sie doch!