Psychische Störung und Stigma: über den Wunsch, verstanden zu werden

„#EndStigmaNow – Beende das Stigma, jetzt!“ heißt es auf Twitter. Das Stigma, mit dem psychische Erkrankungen belegt sind, soll sich auflösen, so der Wunsch. „Stigma“ ist das griechische Wort für „Stich, Brandmal, Kennzeichen“. Wenn Menschen das Wort „psychische Störung“ hören, haben sie ganz unterschiedliche Phantasien. Manche stellen sich so etwas wie „die Verrückten“ vor, die Halluzinationen haben, schreien und Unverständliches von sich geben. Andere stellen sich vielleicht traurige, einsame Menschen vor, die viel erlitten haben, jedoch „ganz normal“ sind und im Berufsleben stehen.

Als ich meine Praxis eröffnete, sagte mir jemand: „Ich will aber nicht, dass hier jetzt die Verrückten durch den Hof rennen.“ Er hatte regelrecht Angst vor den Patienten, die zu mir kommen sollten. „Auf dem Praxisparkplatz stehen aber coole Autos“, sagte mir ein anderer einmal, der erstaunt war, dass auch Menschen mit sogenannten psychsichen Störungen teure Autos fahren und erfolgreich sind.

Wie reif können wir selbst sein?

Wer selbst eine psychische Störung hat und sich damit auseinandersetzt, versteht darunter etwas anderes als jemand, der noch mit der Vorstellung aufwuchs, dass man „normal zu sein hat“ und der sich aus der Angst vor dem „Irre-Sein“ nicht näher mit seinem psychischen Leid befasst.

„Wir halten nur die für normal, die wir nicht näher kennen“, las ich kürzlich. Und so ist es.

Das Leben ist enorm schwer – jeder ist mit seinen eigenen schweren Erlebnissen belastet. Und jeder reagiert anders darauf. Allein das Wort „psychsiche Störung“ finde ich irgendwie unglücklich, denn es wird ja eigentlich psychisches Leid benannt, das die Folge von sehr unglücklichen Zuständen – meist in der Kindheit – ist.

Das Aversive müsste integriert werden

Nun können sogenannte „psychische Störungen“ wirklich fies sein. Der Alkoholiker von nebenan, die schreienden Eltern, der narzisstische Partner, der „asoziale, aggressive Junge“ in der Schule, der Kriminelle, die cholerische Chefin – wir kennen sie alle. Sie sind so, weil sie teilweise sehr schwer traumatisiert sind.

Sehr schwer traumatisiert sind jedoch auch viele warmherzige, liebevolle und erfolgreiche Menschen. Es sind weise Menschen, sehr kluge, sportliche, umweltbewusste und zutiefst liebenswerte Menschen, die befriedigende Beziehungen führen und ihren Mitmenschen viel bedeuten. Sie sind Vorbilder, obwohl – oder gerade weil – sie ein schweres psychisches Leid in sich tragen. Wir können mit ihnen mitfühlen, ja mitleiden, wenn sie erzählen, was ihnen widerfahren ist.

Wenn wir sagen: „End Stigma Now“, dann haben wir vielleicht die Phantasie von Menschen, die Schweres erleiden mussten und manchmal mühe- und kunstvoll jeden Tag um ihr Überleben kämpfen.

Diejenigen, mit denen wir kaum mitfühlen können, weil wir unter ihnen leiden, sind zum Beispiel Narzissten. Dabei wird der Narzissmus in den Medien oft erschreckend einseitig dargestellt. Es sieht so aus, als seien immer nur die anderen die Narzissten. Die Narzissten würden nicht erkennen, dass sie narzisstisch sind, heißt es oft. Doch wir alle haben auch narzisstische Züge.

Harte Aussagen von schwer verletzten Menschen

Auf Twitter stelle ich immer wieder fest, dass die härtesten Aussagen oft von den am meisten verletzten Menschen kommen, deren Verletzungen jedoch nie von jemand anderem gehalten oder mitgetragen wurden. Sogenannter „Hate Speech“ (in den verschiedensten Graden) kommt oft von Menschen, die sehr tief verletzt sind, aber die bisher unverstanden blieben. Wenn diese Menschen dann in der Psychoanalyse auf der Couch darüber sprechen, wie es ihnen wirklich geht, kann man oft nur staunen. Erst, wenn ihr Leid gehalten wird, können sie nach und nach mit ihren provokanten Aussagen aufhören. Wir neigen dann dazu, provozierend zu werden, wenn wir merken, dass wir an unseren wundesten Stellen angegriffen werden, aber unverstanden bleiben.

Wenn wir „psychische Störung“ einmal umformulieren in „psychisches Leid“, dann tun wir uns schon einen großen Gefallen.

Wir müssen das ganze Spektrum sehen

Psychisches Leid ist nicht nur etwas, das MItgefühl auslöst, sondern es kann oft auch sehr starke Aversion auslösen. Es kann hässlich sein, sehr ungerecht, ekelig, abstoßend. Nicht nur Opfer kennen „psychisches Leid“, sondern auch Täter waren einmal Opfer und wurden Täter aus psychischem Leid heraus. Wir alle sind im Alltag oft auch – wider Willen – Täter. Das sogenannte „A-Soziale“ entsteht, wenn kleine Kinder keine Eltern haben, die ihnen mit einem Mindestmaß an Liebe, Verständnis und Güte begegnen.

Manche Kinder, die Gewalt erfahren und gleichzeitig nicht lernen können, zu mentalisieren, zeigen den anderen durch ihre Brutalität und Gleichgültigkeit, wie sie selbst behandelt wurden. Wenn sie keine einzige gute Bezugsperson haben, dann gleiten sie ab in das „Hässliche“. Sie können auch nicht „Verantwortung“ tragen, weil sie diese psychische Struktur, die es braucht, um Verantwortung tragen zu können, nicht haben. Sie konnten sich quasi niemals als „selbstwirksam“ erleben. Um zu erkennen, dass etwas nicht stimmt und um sich Hilfe zu suchen, ist ein Mindestmaß an psychischer Reife erforderlich. Manche Menschen konnten das nicht erreichen – es ist wie eine Behinderung.

Wenn wir verstehen, dass psychisches Leid sehr viele Gesichter haben kann, dann müssen wir nicht mehr um das „Ende des Stigmas“ kämpfen. Wenn wir uns selbst ausreichend gut verstehen können, obwohl wir uns oft so schuldig fühlen und uns als hässlich und nicht liebenswert empfinden, dann nehmen wir das Stigma auch von uns selbst. Und dann fühlen wir uns nicht mehr ganz so sehr angegriffen und getroffen, wenn andere Menschen psychisches Leid nicht verstehen.

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