Wenn man wo drinsteckt, wo man so schnell nicht rauskommt

Es gibt Lebensphasen, da können wir nur wenige Veränderungen vornehmen – da sind wir abhängig von anderen und stecken in einer bestimmten Situation fest. Die erste dieser Lebensphasen ist natürlich die Kindheit, in der wir unseren Eltern ausgeliefert sind. Ist die Situation schlecht, so ist es sehr schwer, zu entrinnen. Wer helfen will, kann oftmals nur Beziehungsangebote machen und warten, bis das Kind groß genug ist, um Wege herauszufinden. Doch wir können unser Leben lang in Situationen kommen, in denen wir gefangen sind, ohne die geringste Idee, wie wir die Situation auf Dauer verändern könnten.

„In guten wie in schlechten Zeiten“

„In guten wie in schlechten Zeiten“ möchte man sich beistehen, so erklären es die jungen Brautpaare. Doch schweben einem da vielleicht Krebserkrankungen oder ähnliche „unverschuldete schlechte Zeiten“ vor. Wie aber ist es mit Demütigungen und Hass, mit Arbeitslosigkeit, Süchten, finanzieller Abhängigkeit, pflegebedürftigen Eltern oder mit dem Gebundensein, weil man den Kindern nicht wehtun will?

Warten, Beten und Teetrinken sind wichtige Tätigkeiten.

„Haben Sie Stress?“, fragt der Arzt lapidar eine Frau, die wegen Herzinfarkt-ähnlichen Symptomen in die Notaufnahme kommt. Die Mutter von zwei Kindern ist geschieden und hat einen Friseurladen. „Sie müssen Ihren Lebensstil ändern“, rät der Arzt allwissend. „Hören Sie mal!“, antwortet die Patientin, „Ich habe einen Laden und zwei Kinder – soll ich die unter die Decke hängen oder wie meinen Sie?“ Diese Frau bringt ihre Lage auf den Punkt.

Es gibt Verbindungen, Verstrickungen, Zwänge und Situationen im Leben, die lassen sich über Jahre oder Jahrzehnte hinweg nur bedingt oder gar auch gar nicht ändern. Manchmal muss man mühevoll aushalten und jeden Tag mit sich selbst neu verhandeln.

Bei Flucht kommen die Probleme mit

Klar, man kann den ungeliebten Job kündigen und sich scheiden lassen (theoretisch jedenfalls). Doch die inneren Probleme und Verbindungen gehen oft mit – ungewollte Kinderlosigkeit, chronische Erkrankungen, Einsamkeit, Rechtsstreitereien, Sorgen um die Kinder, finanzielle Not, Demütigung und Kränkung lassen sich nicht so leicht abstreifen.

Innerlich fühlt man sich weiterhin verfolgt und die Nächte sind sorgenvoll und schlaflos. Dann liest man Sätze wie: „Krebserkrankungen treten oft bei Personen auf, die in unlösbaren Konflikten stecken oder belastenden Situationen ausgesetzt sind.“ Sowas macht zusätzlich Angst. Doch manchmal bleibt uns nichts anderes übrig, als lange auf bessere Zeiten zu warten. Vielleicht kommen Rückenschmerzen und Kopfschmerzen dazu. Aber wenn man sein Leiden nicht verdrängt, muss man nicht unbedingt hoffnungslos krank werden dabei.

Mini-Abstand-Schritte, die mit der Zeit größer werden

Auch, wenn man nicht so schnell aus einer vertrackten Situation herauskommen kann, so sind dennoch Schritte möglich, die weg vom Schlechten hin zum Besseren führen. Das Kind, das in einer gewalttätigen Familie aufwächst, hat doch mit zunehmendem Alter die Chance, auf gute Andere zu treffen. Mit zunehmendem Alter wächst die Zahl der Beziehungen nach außen.

Wer in einer krankmachenden Ehe steckt, kann trotz aller Gebundenheit dennoch Mini-Schritte in die Außenwelt wagen – man kann anderen vom suchtkranken Partner erzählen, Beratungsstellen aufsuchen, dem Arzt die eigene Not beschreiben, einen psychiatrischen Dienst aufsuchen, die Telefonseelsorge anrufen, inneren Abstand finden, spazieren gehen, einem Verein beitreten.

Scham überwinden und Hilfe suchen

Es kann sehr schwierig sein, die eigene Scham zu überwinden und sich selbst zu erlauben, sich Hilfe zu suchen. Sich selbst Hilfe zu gönnen ist bei Schuldgefühlen oft nicht leicht. Dazu ist die Suche nach Hilfe in Zeiten, in denen es einem nicht gut geht, meistens sehr anstrengend. Und auch die Helfer sind nur Menschen, sodass Enttäuschungen nicht ausbleiben.

Doch wer (lange) suchet, der findet.

Das alles braucht Zeit – der innere Abstand zur unguten Situation muss erst gefunden werden und neue Beziehungen brauchen Zeit, um zu wachsen. Sich selbst immer wieder Gutes tun, gute Bücher und Zeitschriften lesen, gute Radiosendungen hören und mutmachende Fernsehbeiträge anschauen, sich inspirieren lassen, sich einen guten Friseur suchen und sich andere, kleine Inseln schaffen – das hilft.

Der innere Raum wird weiter – und damit oft auch der äußere.

Viele kleine innere und äußere Schrittchen tragen dazu bei, dass man langsam den Weg zum Besseren findet. Wenn man auch nicht sofort die Arbeitsstelle verlassen kann, so kann man doch einen inneren Raum der Möglichkeiten schaffen; man kann sich umhören, man kann träumen, sich neu engagieren oder sich Alternativen ausmalen. Das ist oft eine Möglichkeit, Situationen auszuhalten, die nur schwer erträglich sind.

Träumen ist oft der erste Schritt zur Veränderung. Manchmal fühlt man sich gefangen in bestimmten Lebenssituationen – und ist es vielleicht auch. Aber es gibt immer Veränderung – innere wie äußere, und sei sie auch noch so klein.

Jede Veränderung anerkennen

Wer auch die kleinsten Schritte würdigt, der fühlt sich weniger gefangen. Rückschläge gibt es immer. Nach einem Schritt vor scheint man unbemerkt zwei Schritte zurückgegangen zu sein. Was man für Hilfe hielt, machte in Wirklichkeit alles nur schlimmer. Zuerst mag man es sich nicht eingestehen, doch dann hat man eines Tages die Kraft, auch die unschönen Wahrheiten anzuerkennen. Damit müssen wir manchmal eine ganze Weile leben, vielleicht sogar viele Jahre. Doch dann tun sich auch wieder – oft plötzlich – neue Chancen und Gefühlswelten auf und man kann aufatmen. Zum Glück ist es mit dem Unglück wie mit dem Glück: Auch die schweren Zeiten haben einmal ein Ende.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 20.10.2012
Aktualisiert am 16.9.2022

One thought on “Wenn man wo drinsteckt, wo man so schnell nicht rauskommt

  1. HSR sagt:

    „So, wie sich “Glück” nicht festhalten lässt, so ist es zum Glück auch mit dem Unglück.“
    Genau das macht Mut. Das Leben ist wie eine Sinuskurve. Leben ist Veränderung.
    Und gerade in den kritischen Momenten haben wir die Möglichkeit zu wachsen und zu reifen.
    Und häufig muß erst was Schlimmes passieren, damit wir aufwachen und die gewohnte Komfortzone verlassen.
    Ein großer Trost ist und bleibt: Alles geht vorbei und es kommt immer darauf an, wie wir darauf reagieren.
    Es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Freiheit beginnt immer im Kopf.
    Was auch viel ausmacht ist, sich seine Denkgewohnheiten, seine Konditionierungen genauer anzusehen und kritisch zu hinterfragen, inwieweit sie noch alltagstauglich sind bzw eher schaden als nützen.

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