„Psychoanalytiker werden dafür bezahlt, dass sie nichts sagen“, heißt es. „Manchmal frage ich mich, warum ich dahin gehe – der sagt ja gar nichts“, sagen Patienten. „Sie können das Schweigen nicht aushalten“, sagt der Supervisor zum Ausbildungskandidaten.
Verschiedene Arten des Schweigens
So, wie es verschiedene Grade der Helligkeit oder Dunkelheit gibt, so gibt es verschiedene Arten des Schweigens („Klänge der Stille“, EFP-Konferenz 2015, S. 86).
Es gibt desinteressiertes, gelangweiltes, interessiertes, gutes, schlechtes, haltendes, nachdenkliches, gut gelauntes, friedliches Schweigen und viele Arten mehr. Manchmal ist vom Analytiker oder vom Patienten rein gar nichts zu hören. Manchmal hört man, wie sich einer der beiden über den Pulli oder die Hose streicht, einen Augenblick später hört man den Atem.
Oft ist der schweigende Psychoanalytiker im Zustand der „freischwebenden Aufmerksamkeit“. Die Psychoanalytikerin Evelyne Sechaud beschreibt, was dann passiert (Konferenz der Europäischen Psychoanalytische Föderation, EPF 2015):
„Dieses Schweigen ist ein Schweigen des Sich-Öffnens für das Unerwartete, ja, für das Unbekannte. Es geht darum, sich von dem, was der Patient sagt, von allem, was vom Patienten kommt, durchdringen zu lassen. Dies schließt Worte ein, Sprachhandeln, Stimme, Affekte, körperliche Eindrücke, all diese anziehenden, verführerischen und/oder abstoßenden Aspekte. Das Schweigen ermöglicht es dem Analytiker, dem Strom der Assoziationen über die Umwege des Gesagten nachzuspüren, die Vorstellungen und Affekte zu entwirren und sie in ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen Konstruktionen neu zu verbinden.“ (Sechaud, Evelyne, EPF 2015)
Unwohlsein beim Schweigen
Schweigen kann einen Patienten oder Analytiker auch in Spannung versetzen. Es ist für viele gerade am Anfang der Analyse ungewohnt, schweigend beieinander zu sein.
Ungewollte Phantasien können sich im Schweigen breit machen. Manchmal kann das Schweigen unerträglich werden. Wenn ein Patient eine depressive, schweigende Mutter hatte, können die Erinnerungen durch das Schweigen reaktiviert werden. Der Patient fühlt sich vielleicht so alleine, wie er sich fühlte, als die Mutter ihn als Baby stundenlang schreien ließ. Vielleicht entstehen in den Schweigeminuten jedoch auch erotische Spannungen.
Im Schweigen kann sich das Unbewusste breitmachen. Die Realität rückt in weitere Ferne, die Phantasien blühen auf.
Wenn der Analytiker schweigt, ist er meistens dennoch „präsent“. Der Patient spürt das oft und fühlt sich trotz des Schweigens – oder auch aufgrund des Schweigens – gehalten. Oft ist der Patient auch erleichtert, dass der Analytiker gerade jetzt nichts sagt – zu sehr sind die Gefühle oder Erinnerungen so, dass jedes Wort die Situation nur zerstören würde. Durch das Schweigen kann sich der Patient zutiefst verstanden fühlen.
Das Schweigen kann den Patienten jedoch auch wütend machen. Der Analytiker kann das Schweigen dosieren und es dazu nutzen, dass sich ein Gefühl oder eine Szene breit macht, um es genau spüren, beobachten, begreifen und verstehen zu können.
„Der Rest ist Schweigen.“ Die letzten Worte Hamlets vor seinem Tod.
Aktives Schweigen
Das Schweigen des Analytikers ist also durchaus „aktiv“ und produktiv. Der Psychoanalytiker Jannis S. Kontos (Deutsche Psychoanalytische Vereinigung und Griechische Psychoanalytische Gesellschaft) setzt in einem speziellen Sinne „aktives Schweigen“ bei „lebend-toten Patienten“ ein (EFP-Konferenz 2015, S. 89 ff). Er schreibt:
„Was wir in der Analyse beabsichtigen, ist die mütterliche emotionale Abwesenheit präsent werden zu lassen. … Ziel ist, die Patienten den namenlosen Terror wieder erleben zu lassen, so dass er Name, Inhalt und Sinn bekommen kann. Erst dann können wir ihn in die Bearbeitung führen.
Das Schweigen ist in dem Sinne aktiv, wie Bion (1970) die aktive Haltung „without memory and desire“ beschreibt. … Diese Abwesenheit von Worten darf jedoch nicht als fehlgeschlagene Kommunikation missverstanden werden. Vielmehr könnte man diese spezifische Form des Schweigens als ein Übergangsphänomen bezeichnen, als eine Art von Zufluchtsort vor dem unerträglichen Andrang der Fantasie … (Gellman 2012) …
Man könnte also sagen, die Zeit der Stille repräsentiert … eine Zeit, die beiden … eine Atem- bzw. Erholungspause gewährt von der bisweilen besorgniserregenden Nähe und unerbittlichen Intimität im Rahmen des analytischen Settings. …
Das aktive Schweigen des Analytikers bedeutet für diese Patientinnen seine emotionale Abwesenheit. Sie ist durch die unaufhörlichen psychischen Schmerzen präsent, welche diese emotionale Abwesenheit verursacht. Anders ausgedrückt, wenn in der Übertragung der psychische Schmerz und der namenlose Terror durch die ‚Abwesenheit‘ des Analytikers vorherrschen, dann wird seine Abwesenheit präsent und erst dann … ist das Wiederaufleben des archaischen Traumas möglich (S. 91).“
Ein weiterer empfehlenswerter Beitrag zum Thema „Schweigen“ stammt von Raúl Páramo-Ortega, Guadalajara, Mexiko: „Einige Bemerkungen über das Schweigen des Analytikers.“ Erschienen 1967 in: Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie, Jg. 15, H. 3/4 S. 247-252 (PDF)
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Literatur:
Sechaud, Evelyne:
Das Schweigen des Psychoanalytikers
EPF-Konferenz 2015: S. 71-74
www.epf-fep.eu
Dieser Beitrag erschien erstmals am 13.5.2014
Aktualisiert am 11.6.2020
Fips meint
Wenn sich da die ganze Therapeutenriege mal nicht in was verrannt hält, wenn sie das Schweigen weiterhin für sich berechtigen, während Patienten das oft ganz anders erleben. Nehmt deren Rückmeldungen dazu ernst, die feinste Begründungstheorie bringt nichts, wenn sie in der Praxis kontraproduktiv wirkt. Und das tut sie in – meiner Erfahrung nach mit den Rückmeldungen, die ich erfuhr – häufig.