Die Polyvagaltheorie (PVT) nach Stephen Porges und das Trauma

Wenn uns übel ist, dann ist der Nervus vagus gereizt. Er ist der 10. Hirnnerv und gehört zum parasympathischen Nervensystem. Der Nervus vagus ist während der Verdauung aktiv und beruhigt uns. Der amerikanische Arzt Stephen Porges (Universität North Carolina, USA) hat dazu beigetragen, den Nervus vagus in einem neuen Licht zu sehen. Der Nervus vagus besteht nach der Polyvagaltheorie aus zwei verschiedenen Teilen: Im vorderen Teil des Vagusnerven sind die Nervenäste von einer schützenden Hülle, der Myelinscheide, umgeben. Der hintere Teil ist frei von Myelin.

Das umhüllte (myelinisierte) System ist das in der Entwicklung des Menschen neuere, reifere System. Es geht von einem Teil des Gehirns, dem Nucleus ambiguus, aus und liegt weiter vorne im Kopf (der Mediziner sagt: „ventral“, also „zum Bauch“ hin). Der vordere Teil des Nervus vagus ist aktiv in sicheren Situationen und für das soziale Verhalten (Social Engagement) mitverantwortlich.

Der hintere, nicht-myelinisierte Teil ist der ältere, der ursprüngliche Teil und liegt weiter „hinten“ (also „dorsal“ = „zum Rücken hin“). Die Kerne des Nervus vagus sind mit den folgenden Hirnnerven verbunden:

  • V. Hirnnerv (Nervus trigeminus)
  • VII. Hirnnerv (Nervus facialis = Gesichtsnerv)
  • IX. Hirnnerv (Nervus glossopharyngeus, unter anderem zuständig für das Mittelohr)
  • XI. Hirnnerv (Nervus accessorius: versorgt Schlund, Kehlkopf, Musculus sternocleidomastoideus und den Trapezmuskel)

Der Nervus vagus hat gemäß der Polyvagaltheorie einen großen Anteil an der Kommunikation. Er spielt bei der Beruhigung eine Rolle, aber auch bei Trauma-Reaktionen wie z.B. Dissoziation und Erstarrung. Er hängt mit den unwillkürlichen Bewegungen der Gesichtsmuskulatur zusammen und reagiert auf soziale Interaktion: Wir ekeln uns, finden etwas zum Kotzen, haben jemanden zum Fressen gern.

Wenn Reize den Fluchtreflex übersteigen

Ist der Reiz, ist die Gefahr zu groß, wird der Sympathikus aktiv. Das sympathische System ist für den „Fluchtreflex“ zuständig: Wenn wir Angst bekommen und uns eine Situation bedrohlich erscheint, werden unsere Muskeln aktiviert, damit wir weglaufen können. Zu den Fluchtgedanken gehören Angst, Sorge, Furcht und Panik. Zum Kampf gehören Irritation, Frustration, Ärger und Wut. Wenn die Möglichkeiten zu Flucht oder Kampf (Flight or Fight) überstiegen werden, geraten wir in eine Art Starre. Hierfür ist nach der Polyvagaltheorie wieder der dorsale Parasympathikus mit-verantwortlich, der uns in eine Art Taubheit versetzt, uns dissoziieren und unbeweglich werden lässt.

Wenn wir uns sicher fühlen, kann das parasympathische System sich in Grenzen gut regulieren: vorderer und hinterer Parasympathikus arbeiten zusammen. Nach der Polyvagaltheorie kann der ventrale Vagusnerv bei begrenztem Stress den dorsalen Anteil noch bremsen, sodass es nicht zu einer Starre kommt – dies wird als „vagale oder parasympathische Bremse“ bezeichnet.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Ein sehr guter Vortrag von Kerstin Hentschel:
„Die Kraft liebevoller Blicke“
youtu.be/bSOJcwusCf0

Dunja Voos:
Schatten der Vergangenheit.
Trauma liebevoll heilen und innere Balance finden
www.amazon.de

Porges Stephen W (2011):
The Polyvagal Theory:
Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-Regulation
New York: WW Norton

Beckedorf, Dirk und Müller, Franz:
Enrico Caruso, Alfred Tomatis und die moderne Neurobiologie –
prosoziales Hören, ruhiger Herzschlag und gelingende Kommunikation

Schweizer Zeitschrift für Ganzheitsmedizin 2014;26:156-161
DOI: 10.1159/000362487
PDF auf www.karger.com

Scaer, Robert (2014):
The Body Bears the Burden
Trauma, Dissociation, and Disease
Routledge 2014

Berceli, David (2010):
Neurogenes Zittern
Eine körperorientierte Behandlungsmethode für
Traumata in großen Bevölkerungsgruppen
TRE: Trauma-Releasing Exercises
Trauma und Gewalt, 4. Jahrgang, Heft 2/2010 (PDF)

Levine, Peter (2010):
In an Unspoken Voice: How the Body Releases Trauma and Restores Goodness
North Atlantic Books, 2010
„Trauma ist seinem Wesen nach nonverbal.“ (Levine in Scaer, 2014)
www.traumahealing.com
www.somaticexperiencing.com

Kollar, Anton (1994):
Bemerkungen zur Schutzfunktion der Mittelohrmuskeln
Oto-Rhino-Laryngologia Nova, Vol. 4, No. 5-6, 1994
DOI:10.1159/000313135
www.karger.com/Article/Abstract/313135

Dipl.-Psych. Susanne Winkler (2018):
Was geschieht mit dem Körper unter hohem Stress, Trauma, Schock und Erstarrung?
Vortrag in der Alexius-Klinik Neuss, 29,8.2018; Einführung in die TRE® nach David Berceli)
Norddeutsches Institut für Bioenergetische Analyse e.V.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 19.4.2014
Aktualisiert am 15.6.2024

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6 thoughts on “Die Polyvagaltheorie (PVT) nach Stephen Porges und das Trauma

  1. Dunja Voos sagt:

    Das freut mich, dank Dir für die Rückmeldung :-)
    Herzliche Grüße, Dunja

  2. Birte Hennig sagt:

    Liebe Dunja, danke für den Link zum Film „die Kraft liebevoller Blicke“ – die Polyvagaltheorie sehr verständlich erklärt und die Vagusbremse ist mir jetzt richtig klar geworden. Bekanntes nochmal gut verankert … sehr schön …. Gruß von Birte

  3. Dunja Voos sagt:

    Vielen Dank, liebe Melande, für diesen Beitrag!
    Ihnen ein gutes Neues Jahr!
    Dunja Voos

  4. Melande sagt:

    Fortsetzung:
    ………….Genau das habe ich erlebt während einer ambulanten Augenoperation bei vollem Bewußtsein. Einen Teil dieses schrecklichen Erlebnisses habe ich in meinem Kommentar vom 11.01.2019 (Stichwort: „Stärker als der Wille“) beschrieben.

  5. Melande sagt:

    Also: Der hintere Teil des Nervus vagus (der zum parasympathischen Nervensystem gehört) wird aktiv, wenn in einer großen Angstsituation FLUCHT NICHT MÖGLICH ist (der Sympathikus nicht übernehmen kann), ich nicht weglaufen kann.
    Statt dessen spielt sich das „Hilfe!! Hilfe!! Bloß weg hier!!“ in meinem Körper ab. Äußerlich liege/stehe/sitze ich gaaaanz ruhig da in der Hoffnung, dass es bald vorbei ist.

  6. Melande sagt:

    In diesen Teil bin ich heute zufällig geraten, weil meine mouse am Spinnen war.

    Ich konnte Einiges identifizieren, was mich betrifft. Ich bin schon lange dabei, eigene Hilfen (mangels schulmedizinischer Resonanz) für meine seltenen (?) Problematiken (und davon habe ich eine ganze Reihe) zu suchen.

    FLUCHTREFLEXE „überfallen“ mich immer mal wieder, in bestimmten Situationen, was sich bei mir in lautem, schnellen, vorwurfsvollen Reden äußert, und, wenn keine verständnivolle, ruhige Reaktion kommt, ins hektische Agieren umschlägt (z.B. `raus aus der Wohnung, ´rauf aufs Fahrrad, `rein in den Garten, dort etwas „angreifen“ und dabei viel schaffen).

    ÜBELKEIT habe ich etwa täglich, für einen begrenzten Zeitraum (Gastroskopie zeigte einen gesunden Magen).

    SCHMERZEN im Gesicht, linksbetont, habe ich auch häufig, manchmal den ganzen Tag über.

    Meine Hypothese, dass nach der Polyvagaltheorie bei mir der dorsale Teil des Nervus-vagus überaktiv ist, triffts, wie ich finde, genau.

    Mit wem könnte ich über meine eigenen diagnostischen und therapeutischen Ansätze sprechen?
    Ich weiß nicht, wie Skypen geht, habe als Rentnerin kein Geld für weite Fahrten, finde in meinem Umfeld keine Austauschmöglichkeiten.

    NUR beim Lesen dieses Blogs fühle ich mich nicht gar so allein mit meinen Leiden.

    Einen ganz lieben Dank dafür!

    Melande

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