
Jetzt geht’s um komplizierte Psychologie. Wir alle tragen andere Menschen „in unserem Herzen“, aber auch in unserem Kopf: Es sind unsere „inneren Objekte“. Wenn wir an unseren besten Freund denken, dann ruft dieses Bild bestimmte Gefühle in uns wach. Wenn wir uns nicht vom Dreimeter-Brett trauen, dann vielleicht, weil wir die ängstliche Stimme der Mutter im Ohr haben, die sagt: „Spring lieber nicht, das ist zu gefährlich!“ Wir können uns mit unserem Lieblingslehrer „identifizieren“ – dann sind wir „wie“ er. Wir können eine andere Person aber auch „introjizieren“ – dann sind wir nicht nur „wie“ diese Person, sondern wir sind „ganz und gar“ diese Person.
Ein Teil werden von …
Kleine Kinder introjizieren automatisch Teile ihrer nächsten Bezugspersonen, also besonders Teile von Mutter und Vater. Sie bewegen sich wie sie und schauen wie sie, sprechen wie sie und haben Einstellungen wie sie. Manches ist genetisch bedingt, manches jedoch ist sozusagen psychologisch vererbt. Manchmal empfinden wir unser Tun als fremd und wir sagen: „Das bin ja gar nicht ich!“ Wir erleben unser Denken und Tun als „ich-dyston“, als „ich-fremd“. Es ist, als ob etwas Fremdes in uns wäre, das uns handeln und fühlen lässt. In anderen Bereichen sind wir „ich-synton“, also wir fühlen uns Eins mit dem, was wir sagen, tun, fühlen, denken. Manchmal tun, fühlen, denken wir jedoch auch etwas, als sei es „ich-synton“, obwohl wir es ursprünglich nicht wirklich selbst sind. Das kann passieren, wenn wir sehr verklebt mit einer Bezugsperson sind. (Siehe auch: „Falsches Selbst“ nach Winnicott.)
Mit dem Suizid ist ein anderer gemeint
Viele Menschen spüren „den verhassten Vater“ oder „die verhasste Mutter“ in sich. Manche mehr, andere weniger bewusst. Es entsteht das Gefühl: „Ich will das (sie oder ihn) los werden!“ Wenn man manche Fälle von Suizid untersucht, dann lässt sich stark vermuten, dass sich so mancher umbrachte, weil er nicht mit dem leben konnte, was „in ihm“ war, also z.B. nicht mit diesen schrecklichen Stimmen von Mutter und/oder Vater. Der Betroffene bringt sich selbst um, aber eigentlich gilt dieser „Mord“ dem inneren Vater/der inneren Mutter. Doch das Ich ist mit dem Vater/der Mutter so verklebt, dass er/sie nur getötet werden kann, wenn man sich selbst umbringt. In der Psychoanalyse versucht man daher, die inneren Objekte genau zu analysieren und sich selbst von ihnen zu differenzieren. Töten geht nicht, aber Integration, Verstehen und Trennung funktioniert. Wenn man die Schmerzen und die Angst des Angreifers (des inneren Objektes) versteht, kann es einem besser gehen.
Bestrafung und Rache
Ähnlich wie mit dem Suizid könnte es mit den Themen „Schuld, Strafe und Rache“ funktionieren. Wenn Mutter oder Vater das Kind gewalttätig behandelten, hätte sich das Kind eine Polizei gewünscht, die endlich alles aufdeckt. Es hätte sich „Verrat“ gewünscht, doch gleichzeitig fürchtete es sich davor, dass alles auffliegt, denn es will ja seine Bindungen behalten. Im Kind wuchs die Rach-Sucht. „Irgendwann zahle ich es ihnen heim!“, denkt es sich. Es wird dann – im gesündesten Fall – vielleicht selbst Polizist oder Richter, um der Gewalt und den Ungerechtigkeiten in der (Innen-)Welt etwas entgegenzusetzen. Im ungünstigen Fall aber bekommt das Kind so etwas wie eine „Entdecktwerden- und Gestraftwerden-Sucht“. Dabei soll eigentlich nicht es selbst gestraft werden, sondern das böse Objekt in ihm. Aber wiederum ist die Verschmelzung so groß, dass es dann „beide“ erwischt: Das „Selbst“ selbst und das böse innere Objekt. Dennoch kann die Befriedigung so groß sein, dass das Kind später als Erwachsener immer wieder etwas tut, das Strafen nach sich zieht.
Es ist kompliziert
Bei all diesen Überlegungen muss man sich immer im Klaren sein, dass es quasi nur Philosophien, psychoanalytische Theorien und Modelle sind. In der Psychoanalyse geht immer ein innerer Beobachter mit, der sagt: Das fühlt sich passend an oder eben nicht. Es erscheint mir einleutend oder abwegig. Diese Erklärung spannt mich an, jene Deutung erleichtert mich ungemein. Stückchen für Stückchen tasten wir uns in unserer Seele vor. Die Arbeit an sich selbst ist wie ein Hausbau: ein spannendes Dauerprojekt.
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Literaturtipp:
Reik, Theodor (1925):
Geständniszwang und Strafbedürfnis.
Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie.
Leipzig-Wien-Zürich, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1925
https://www.zvab.com/buch-suchen/titel/gestaendniszwang-und-strafbeduerfnis/autor/theodor-reik/
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