Wer etwas Einschneidendes erlebt, wird möglicherweise feststellen, dass innerlich „zwei Filme ablaufen“: Einerseits kann man vielleicht klar denken, andererseits erlebt man so starke oder auch so dumpfe Gefühle, dass sie das Denken vernebeln. Menschen, die einen Unfall haben, empfinden oft keine Schmerzen – oder sie erinnern sich später nicht mehr daran. Obwohl die Dissoziation in manchen Lehrbüchern schlicht als „psychische Funktionsstörung“ beschrieben wird, ist die Fähigkeit zur Dissoziation auch eine Stärke, die uns in extremen Situationen schützt. „Dissoziation“ heißt wörtlich „Auseinanderfallen“, „Abtrennung“, „Zerfall“. Bei der Dissoziation gehen Denken und Fühlen auseinander.
Die Schwierigkeit, Getrenntes zusammenzuführen
Die Dissoziation bewahrt uns davor, von zu starken Gefühlen übermannt zu werden. Viele Menschen, die in der Vergangenheit Schlimmes erlebt haben, können detailliert von dem Geschehen erzählen, empfinden dabei aber nichts. Die dazugehörigen Gefühle sind wie weggeblasen.
Doch in Träumen oder in verschiedenen Situationen kann der Schrecken der damaligen Situation wieder auftauchen. Oftmals nur in Anwesenheit einer beschützenden Person, z.B. eines Psychotherapeuten, ist es möglich, die dazugehörigen Gefühle eines traumatischen Ereignisses wieder zuzulassen und zu verarbeiten.
Dissoziation und Hysterie
Die Dissoziative Störung kann Teil aller möglichen psychischen Störungen sein. Heute tritt die Diagnose „Dissoziative Störung“ oft an die Stelle der ehemaligen Diagnose „Hysterische Neurose“. Man sagt, verschiedene „Ich-Zustände“ sind bei der Dissoziation nicht miteinander verbunden (sekundäre Spaltung) (wie auch immer man sich das vorstellen soll …).
Das traumatische Erlebnis wird sozusagen in verschiedenen Teilen des Gehirns/der Psyche verarbeitet, aber es kommt nicht zusammen, was zusammengehört – Gesehenes, Gefühltes, Gedachtes, erinnerte Gerüche usw. werden getrennt voneinander gehalten. Manchmal wird das Trauma auch auf eine „innerliche Insel“ geschickt, sodass die Betroffenen noch nicht einmal darüber sprechen können. Das Bild schwebt ihnen im Kopf herum, aber es kann nicht über Kommunikation heraus.
Dissoziation und Verdrängung
Dissoziation bedeutet manchmal auch „Verdrängung“, wobei ungewollte Gefühle, Wünsche und Erinnerungen ins Unbewusste „verdrängt“ werden. Der Betroffene spürt dann keine Angst, keinen Schrecken und keinen psychischen Schmerz mehr. Stattdessen können sich in Situationen, die an das Trauma erinnern, körperliche Symptome wie Herzrasen, Zittern, Durchfall, Harndrang oder Übelkeit bemerkbar machen.
Die sogenannte „Dissoziation“ ist also manchmal auch nichts anderes als eine „Konversion“ – ein Abwehrvorgang, in dem aus seelischen Vorgängen rein körperliche Beschwerden werden.
Die Dissoziation hat viele Gesichter
Psychologen teilen die Dissoziation in verschiedene Erscheinungsformen auf: Es gibt die Dissoziationen der Wahrnehmung, des Denkens und der Affekte (Affektdissoziation). In Wirklichkeit lassen sich diese drei Formen jedoch nicht immer so genau herauspicken.
Wer dissoziiert, der tut dies meistens „ganzheitlich“, also auf allen drei Ebenen. Das Prinzip ist immer dasselbe: Es wird nur ein Teil des Ganzen wahrgenommen, gedacht oder gefühlt. Spaltet der Betroffene besonders viel von seinem bewussten Erleben ab, dann fehlt ihm dabei auch ein Stück „Identität“ – die Diagnose lautet dann unter Umständen „Dissoziative Identitätsstörung/Persönlichkeitsstörung“, auch „Multiple Persönlichkeitsstörung“ (Multiple Personality Disorder, MPD) genannt.
„Multiple Persönlichkeitsstörung“
Zur „Multiplen Persönlichkeitsstörung“ gibt es aufsehenerregende Filme und Berichte in den Medien. In den USA gab es vor Jahren eine regelrechte Welle der Diagnose MPD – manche Patienten sollen bis zu 150 verschiedene Persönlichkeiten gehabt haben. In einer psychoanalytischen Therapie lassen sich diese Vorgänge jedoch oft verstehen. Die Betroffenen finden in der Psychoanalyse oft Worte und Symbole für die schrecklichen Dinge, die sie erlebt haben. Dann wird das, was vorher „dissoziiert“, also irgendwie abgespalten war, „integriert“. Das heißt, in der Psyche werden die einzelnen Teile zusammengeführt, sodass sich der Betroffene schließlich „ganz“ an sein Trauma erinnern kann – mit allen dazugehörigen Gefühlen und Eindrücken, die jedoch jetzt nur noch so groß sind, dass sie betrachtet und ausgesprochen werden können.
Begriffe im Zusammenhang mit Dissoziation:
Amnesie = lückenhafte Erinnerung
Fugue [sprich: „Fjuug“] = ein Patient kann sich nicht daran erinnern, dass er von einem Ort an einen anderen gegangen/gereist ist
Stupor und Katatonie = Der Patient ist „abgestumpft“ und ist nicht mehr ganz in Verbindung zu seiner Umwelt. Er ist vielleicht unbeweglich (kataton) reagiert kaum noch.
Depersonalisation = Der Betroffene kommt sich selbst fremd vor; es ist ihm, als stünde er außerhalb von sich
Derealisation = Die Außenwelt kommt dem Betroffenen komisch fremd vor – alles wirkt unwirklich
Schein-Demenz („Ganser-Syndrom“) = der Patient wirkt „dümmlich“ und spaltet einen Teil seiner Intelligenz ab
Quellen:
Rudolf Heinz
Konversion und Dissoziation
Lesetext zum Vortrag vom 11.8.2010 in der Klinik für
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Michael Ermann:
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Ein Lehrbuch auf psychoanalytischer Grundlage.
Kohlhammer Stuttgart 2004: 64, 166–167
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Links:
Ellert Nijenhuis:
Somatoforme Dissoziation.
Junfermann-Verlag
Ursula Gast:
Psychoanalyse und die Dissoziation des Selbst
Vortrag 2006
www.traumhaus-bielefeld.de
Infonetz Dissoziation der Medizinischen Hochschule Hannover
International Society for the Study of Trauma and Dissociation
Diagnosesnummern nach ICD 10:
F44: Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen)
F44.81: Dissoziative Identitätsstörung („Multiple Persönlichkeit“)
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 29.12.2012
Aktualisiert am 17.5.2014
Riabe meint
Schade, dass hier nur das steht, was auf Wikipedia und 2000 anderen Seiten ebenfalls über die DIS zu finden ist.
Bei der PTBS erwähnen Sie, dass das Wort „Störung“ eigentlich nicht passt. Das tut es hier auch nicht. Dissoziative Identitätsstruktur wäre mMn treffender. Denn es ist ja eben jene, welche dissoziativ ist, und nicht gestört: im Gegenteil, manche Identitätsabspaltungen sind sogar sehr gesund.
Vielleicht kommt ja irgendwann ein Text dazu, der es erlaubt, ihn an Freunde und Verwandte zu schicken; um die DIS für „Fremde in der Fachsprache“ verständlich zugänglich zu machen, ohne eigene Geschichte einweben zu müssen.
Ich wäre sehr froh darum. Denn obwohl vertraut mit Fachdeutsch und der Diagnose, bzw Psychoedukation, ist es enorm schwierig, die eigene Lebensrealität zu erklären, ohne sich zu sehr zu offenbaren. Die DIS überfordert, meiner Erfahrung nach, nämlich auch die besten Freunde…
Freundliche Grüsse
RiaBe
Polyperson meint
Ist es möglich, dass meine Innies sich Geschichten ausdenken, die meinen in ihn steckenden Gefühlen eine Form geben, die mich die Gefühle aus der Distanz fühlen lässt, ohne mir weh zu tun?
Melinas meint
Ja, das ist wahr – so habe ich es in meinem Blog auch beschrieben. Ich finde in meinen selbstgeschriebenen Geschichten mich – auf eine neue Weise – sozusagen die Gefühle dazu, die ich damals irgendwie scheinbar nicht fühlte oder irgendwo weggesperrt waren. Es sind Puzzleteile, die ich da finde. Im Buch „Weltenchaos“ sind da viele davon drin – auch verschachtelt. Aber noch mehr von diesen Gefühlszuständen-Geschichten habe ich in letzter Zeit geschrieben. Sozusagen eine Art Biographie in Geschichten – meiner.