„Es ist wichtig, frühzeitig mit einer Psychotherapie zu beginnen, damit es nicht chronisch wird.“ Diesen Satz liest und hört man überall. Ich wage das zu bezweifeln. Angststörungen, ADHS, Depressionen und andere Leiden fallen meistens nicht vom Himmel. Wohl immer gibt es eine jahrelange Vorgeschichte. Die meisten Geschichten beginnen meiner Meinung nach in der Kindheit. Nicht selten ist die Forderung nach „frühzeitiger Psychotherapie“ ein Geschäft mit der Angst. Ich denke, jeder spürt für sich selbst genau, wann der Zeitpunkt gekommen ist, um sich Hilfe zu suchen.
Die Psyche ist kein Blinddarm, der sich plötzlich entzündet. Was in der Körpermedizin oft gilt, lässt sich nicht so leicht auf die Psyche übertragen. Heute weiß man: Psychotherapien wirken dann besonders gut, wenn auch der Leidensdruck groß genug ist. Leidensdruck ist unter anderem ein gesundes Zeichen der Psyche, die sagen will: „Hier stimmt etwas nicht, ich brauche Hilfe.“
Der Betroffene spürt, wann der richtige Zeitpunkt da ist
Ich glaube, dass der Betroffene selbst am besten den richtigen Zeitpunkt wählen kann. Wird jemand auf Raten des Arztes, des Lehrers oder sonst wem zur Psychotherapie geschickt, obwohl er innerlich noch nicht bereit dazu ist, ist die Psychotherapie oft wenig sinnvoll. Vielen Menschen tut es auch gut, die Erfahrung zu machen, dass sie Krisen alleine bewältigen können. „Zu spät“ für eine Psychotherapie ist es selten. Natürlich kann man hier und da vorbeugen oder durch ein motivierendes Gespräch den „richtigen Zeitpunkt“ für eine Psychotherapie entdecken. Aber heute ist es für viele Betroffene schwierig, sich nicht unter Druck gesetzt zu fühlen. Die meisten Menschen spüren sehr gut, wann für sie persönlich der richtige Zeitpunkt für eine Psychotherapie gekommen ist.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 19.6.2014
Aktualisiert am 7.9.2014
Dunja Voos meint
Hallo Valko,
ich sehe es ähnlich wie Sie: ADHS ist aus meiner Sicht nichts anderes als eine Beschreibung von Symptomen. Doch die Menschen und besonders viele Eltern leben heute mit diesem Begriff. Besonders die Eltern haben häufig einen hohen Leidensdruck, aber auch die „hibbeligen Kinder“ leiden. Denn aus meiner Sicht ist ADHS oft nichts anderes als ein Symptom für eine psychische Störung, z.B. für eine Angststörung, eine Depression oder ein Trauma. Aber wie gesagt: die Menschen heute leben mit diesem Begriff und fragen sich oft, ab wann ADHS einer Therapie bedarf. Daher habe ich es mit in die Liste genommen, wohl wissend, dass der Begriff problematisch ist.
Viele Grüße
Dunja Voos
Valko meint
Hallo,
mich wundert, dass Sie ADHS als „Leiden“ aufführen. Meiner Meinung nach gibt es ADHS gar nicht als spezifische Krankheit oder Leiden. Es handelt sich doch nur um ein willkürlich konstruiertes Bündel von unspezifischen Verhaltensweisen, bei denen nicht einmal klar ist, ob und wann sie „krankhaft“ sind. Bei den anderen vo Ihnen angeführten Leiden ist die Spezifität der Symptome ja denn auch viel deutlicher als bei „ADHS“.
Fips meint
Vor 25 Jahren sah es schlecht aus mit Informationen über seelische Probleme. Ich wußte lange nicht, was mit mir ist, noch daß andere ebenso teils so empfinden. Heute kommt man eher darauf, daß eine Therapie eine Option ist. Das ist gut so.
Ich denke, der richtige Zeitpunkt für Therapie ist der, wo man sich selbst noch halbwegs erreicht, von außen halbwegs erreicht werden kann und wo das Problem sich noch nicht als eigene Seele ausgibt. Aber wer das erkennt, der braucht auch wohl keine Therapie. Jemand sagte mal, Therapie mußt Du machen, wenn es Dir gut geht.