Das präverbale Trauma behandeln heisst auch: eine Geschichte für die unerklärlichen Zustände finden

Psychische Verletzungen gehören zum Leben und lassen sich nicht vermeiden. Manche Verletzungen sind sehr schwer, andere fallen weniger ins Gewicht. Wenn jedoch schwere, vielleicht immer wiederkehrende psychische und körperliche Angriffe in einem Alter stattfinden, in dem ein Mensch noch nicht sprechen kann, sind auch die Folgen oft besonders schwer und hartnäckig. Wenn du selbst betroffen bist, leidest du vielleicht unter den verschiedensten körperlichen und psychischen Symptomen, die sich nicht so leicht erklären lassen.
Wenn Dir im vorsprachlichen (= präverbalen) Alter Gewalt zugefügt wurde, kannst du dich wahrscheinlich nicht bewusst daran erinnern. Vielleicht weisst du nur aus Erzählungen, dass du medizinische Behandlungen, bedeutsame Trennungen oder Gewalt erlebt hast. Du leidest vielleicht unter unbestimmten Symptomen wie Schwindel, Depersonalisation oder Übelkeit. Frühe körperliche und psychische Verletzungen sind oft dann besonders tragisch, wenn sie von den nächsten Bezugspersonen verursacht wurden, also z.B. von Mutter und Vater.
Das Trauma wird spät sichtbar
Oft erst ab der Pubertät zeigt sich das vorsprachliche Trauma deutlicher, sodass du merkst: Im Vergleich zu Gleichaltrigen ist das, was ich erlebe, nicht normal. Plötzlich können Ängste auftreten oder du musst weinen, ohne dass du weisst, warum. Vielleicht denkst du auch mehr über die Themen „Leben, Sinn und Tod“ nach, als es andere in deinem Alter tun. Es kann auch sein, dass du besonders empfindlich reagierst auf bestimmte Tageslichter, Stimmungen oder auch Gebäude.
Wenn traumatische Ereignisse in der Babyzeit stattfanden, dann lassen sich die Zusammenhänge zwischen deinem jetzigen schlechten Gefühl und den Ursachen nicht immer so leicht finden. „Wir können uns das Leid nicht so richtig erklären“, sagen dann auch Psychotherapeuten manchmal.
Der Selbstpsychologe Heinz Kohut hat einmal gesagt, dass es das Schlimmste sei, keine gute innere Mutter zu haben. Wenn die frühe Beziehung zur Mutter stark gestört wird, dann fehlt es an dem Gefühl, ausreichend geborgen zu sein in unserer unsicheren Welt. Andere scheinen sich da jedenfalls irgendwie sicherer zu fühlen und sind nicht ständig so erschöpft. Menschen, die als Baby oder Kleinkind schwer traumatisiert wurden, fühlen sich vom Leben oft deutlich stärker überfordert als Gleichaltrige. Es fällt ihnen mitunter schwerer, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen.
Was hilft?
Jeder und jede Betroffene findet auf der Suche nach Hilfe eigene Wege. Ich selbst kann als Psychoanalytikerin sagen, dass die Psychoanalyse – auch „Analytische Psychotherapie“ genannt – oft gut helfen kann, weil eine enge Beziehung zwischen Analytiker und Patient aufgebaut wird. Diese Nähe erinnert oft an die frühe enge Beziehung zu Mutter und Vater. So werden oft sehr frühe Ängste und ungute Gefühle reaktiviert, die dann genauer untersucht werden können. Manchmal kann man nach und nach eine Geschichte finden, die nachvollziehbar ist. Ich rate dabei oft, die Analytische Psychotherapie in der Freizeit mit Yoga oder Ähnlichem zu verbinden, da Psychotherapien oft wirksamer sind, wenn der Körper berücksichtigt wird.
Bei frühen Traumata, ist es meistens sehr schwierig, Worte für das eigene Befinden zu finden. Die Psychoanalyse hält für dieses Problem einige Hilfsmittel bereit. Anstatt nur zu sprechen, wird in der Psychoanalyse gerade auch das Träumerische berücksichtigt. Wenn der Analytiker den Zustand der „Reverie“, also des träumerischen Denkens, einnimmt, kann er viel von der Atmosphäre und vom Patienten erfassen. Er hat gelernt, wirklich präsent zu sein, wenn es dir auf einmal wieder sehr schlecht geht. Durch diese Präsenz kannst du das Gefühl entwickeln, nicht mehr ganz alleine zu sein.
In einer Psychoanalyse kann man auf Wunsch auch auf der Couch liegen. Das hilft dabei, Themen wie Hilflosigkeit oder Ohnmacht mitten in der Therapie aufblühen zu lassen. Dann sind die Zustände „zum Sprechen nahe“. Meistens entstehen zunächst Bilder und Vorstellungen, die man als Patient mit dem Analytiker teilen kann. Aber auch im Analytiker bilden sich Bilder und wenn er sie dem Patienten vorsichtig beschreibt, kann es zu neuen Ideen kommen und zu Gefühlen von Verbundenheit. Manchmal kann man sich als Patient aber auch sehr missverstanden fühlen. Auch darüber lässt sich dann sprechen. Was in der eigenen Familie vielleicht rasch zum Drama oder zur Katastrophe wurde, kann in der Psychoanalyse in ruhigeres Fahrwasser kommen.
Bilder, spielerisches und träumerisches Denken können dabei helfen, Worte und Symbole zu finden für das, was zunächst unsagbar erschien.
Mit der Zeit wird es in der Psychoanalyse oft möglich, Gefühle und Zustände so zu beschreiben, dass andere etwas damit anfangen können. Du kannst anderen leichter von dir erzählen und langsam auch Mitgefühl, Trost und Verständnis erfahren. Selbst, wenn Deine schrecklichen Gefühle immer wieder auftauchen, kann dir vielleicht das Gefühl helfen, dass der Psychoanalytiker jemand ist, der dir gleichzeitig respektvolle Nähe und Freiheit gibt.
Du brauchst eigentlich nicht viel – nur den Wunsch, die innere Wahrheit zu finden und sehr viel Geduld.
Die Hoffnung, dass es möglich sein kann, aus dem fast Unerträglichen herauszufinden, tragen viele Betroffene tief innen mit sich. Streckenweise kann die Hoffnung verloren gehen. Wenn du einen guten Therapeuten gefunden hast, dann kann er die Hoffnung für dich aufrecht erhalten, wenn sie dir abhanden kommt. Aber auch zeitweilige gemeinsame Hoffnungslosigkeit kann eine verbindende und wertvolle Erfahrung sein. Die Psyche ist langsam, aber beweglich – Du brauchst „einfach“ sehr viel Zeit.
„Wie können wir Dinge sehen, ja beobachten, die nicht sichtbar sind? (Bion, 2005). Wie wird gefühlte Erfahrung denkbar? Und was für ein schmerzvolles Etwas existiert in unserem Körper, das aber niemals ein emotional gefärbter Gedanke wird? Wie sprechen wir über den Einfluss über das, was nicht verbalisierber und nicht repräsentierbar ist? Wie können wir als Psychoanalytiker mit dem Unfassbaren und Unartikulierbern arbeiten?“
„How are we to see, ‚observe these things which are not visible?‘ (Bion, The Italian Seminars 2005). How does felt experience become thinkable? And what of a painful something which exists in the body, but which never becomes emotionally invested thought? How do we speak about the impact of what is unverbalisable and irrepresentable? How do we as analysts work with the ineffable, the inarticulate?“
Zitat vom Jahreskongress der Kanadischen Psychoanalytischen Gesellschaft (CPS), Juni 2019
https://www.wbcps.org/44th-annual-cps-congress-emotional-turbulence-working-clinically-with-unformed-experience-may-30-june-2-2019/
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Lesetipps:
Jutta Gutwinski-Jeggle:
Unsichtbares sehen – Unsagbares sagen
Unbewusste Prozesse in der psychoanalytischen Begegnung
Psychosozial-Verlag, 2017
Renate Hochauf (2014):
Der Zugang analytischer Psychotherapie zu frühen Traumatisierungen.
In: Evertz, Janus, Linder (Hrsg.): Lehrbuch der Pränatalen Psychologie
Mattes Verlag Heidelberg
https://www.mattes.de/buecher/praenatale_psychologie/978-3-86809-085-7.html
„erreicht die Stresseinwirkung eine bestimmte und nicht mehr aushaltbare Stärke, nimmt das innere Suchprogramm keine Chance der Rettung mehr wahr, entsteht ein völliger Kontrollverlust über die Situation … Nach einer Phase panikartiger Angst, verminderter Selbstwahrnehmung und selektiv-über-identifikatorischer Orientierung auf äußere Bedrohungs- und Rettungsmomente entsteht ein dissoziierter Zustand, der den Verlust des ganzheitlichen Raum-, Zeit- und Selbsterlebens nach sich zieht. Die Zeit scheint ’still zu stehen‘. Dieser Zustand bildet sich intrapsychisch als verzweifelt-hilflos gegenüber einer übermächtigen Bedrohung ab … Der im Erschöpfen der Überlebensreserven eintretende Schock zerreißt die Bezogenheit zur Situation (Fischer und Riedesser, 1998). … Psychisch kann – infolge bestimmter Neurotransmitter-Ausschüttungen ein Zustand der Außerkörperlichkeit und Angstfreit bis hin zu depersonalisierten Erlösungszuständen entstehen – der Körper wird nicht mehr wahrgenommen. Das körperliche Reaktionsspektrum jenseits des Abschaltpunktes speichert deshalb das ‚Überlebensgeheimis‘.“ (S. 150/151) „Somit bilden sich infolge der zeitlich gerade beginnenden Strukturierungsprozesse des Gedächtnisses Reiz-Reaktionsmuster nicht als ‚Bild‘, sondern als Eindrucksqualitäten sensomotorischer Art ab.“ (S. 152)
Renate Hochauf erklärt, dass verbale Interventionen hier häufig nicht helfen – Sprache und „freie Assoziation“ hängen zusammen, sind jedoch auf einer reifen, kortikalen Ebene zu finden, also in der Hirnrinde. Da das vorsprachliche Trauma jedoch in den Hirnregionen verarbeitet werde, die unterhalb der Hirnrinde liegen, könne freie Assoziation kaum stattfinden und Deutungen gingen ins Leere, so Renate Hochauf.
„Für die Bearbeitung früher Traumata scheint die nichtsymbolisierbare Abbildungsqualität traumatischer Erfahrungen in besonderem Ausmaß bedeutsam. Sprachliche und dynamische Interventionen können diese Prägung nicht erfassen und in eine reflektierende Arbeitsebene transportieren, da sie eine symbolische Abbildungs- und Deutungsebene anzielen. Sie setze eine Repräsentation voraus, die mentalisierte kortikale Vorgänge abbildet. Dies aber ist für eine Traumaabbildung in unterschiedlichem Ausmaß nicht gegeben. … Ausgehend von den aktuellen Triggerungen, müssen die frühen Matrizen aufgefunden werden, die subkortikal und ohne Kontext ‚mitlaufen‘ und die spätere Kommunikation sensomotorisch-affektiv oder dissoziativ einfärben.“ (S. 162) Die „innere Kodierung der Traumaaufzeichnung“ hänge „auch vom Zeitpunkt der Einwirkung ab.“ … „Vielmehr stellen sich derartige Erfahrungen in besonderem Maße als ‚kontextlos‘, reiz- und affekt-indifferent und auf die gesamte Aktualumgebung projiziert dar. Sensomotorische Prägungsmuster werden ohne kognitive Differenzierungschance auf die Umgebung so übertragen, dass ein hoher Grad an Realitätsgewissheit für die Bedrohung durch die aktuelle Realität im subjektiven Erleben entsteht. Solche Phänomene finden sich oft in quasi-dynamischen Matrizen wieder, die sich von echten Dynamisierungen durch ihre Ladung und körperlich erlebte Realitätsgewissheit unterscheiden, selbst wenn eine kognitive Distanzierung gelingt.“ (S. 163)
Renate Hochauf (2007):
Frühes Trauma und Strukturdefizit
Ein psychoanalytisch-imaginativ orientierter Ansatz zur Bearbeitung früher und komplexer Traumatisierungen
Asanger-Verlag 2007
https://zentralbuchhandlung.de/shop/i/fruehes-trauma-und-strukturdefizit-9783893344857-2630.html
Bergstein, Avner (2013):
Transcending the Caesura: Reverie, Dreaming and Counter-Dreaming
Int. J. Psycho-Anal., 94(4):621-644
Dunja Voos:
Schatten der Vergangenheit.
Trauma liebevoll heilen und innere Balance finden
amazon, 2020
Dunja Voos:
Vojta-Therapie bei Babys – ein Aufschrei
Hilfe bei einem speziellen Trauma
Selbstverlag, Februar 2021
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.2.2021
Aktualisiert am 20.5.2025
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3 thoughts on “Das präverbale Trauma behandeln heisst auch: eine Geschichte für die unerklärlichen Zustände finden”
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Liebe Frau Dr. Voos,
gibt es in Ihrem Blog einen Artikel, der sich mit dem (drohenden) Scheitern des oben beschriebenen Prozesses beschäftigt?
Danke und liebe Grüße
Patricia
LIebe Patricia,
vielen Dank für diesen gut formulierten Kommentar!
Ja…
Und dennoch: Es ist vielleicht eine Hölle, durch die man während einer Analyse dann geht… Eine Hölle, die es zwar schon als Baby gab…, die als Baby aber noch nicht erlebt werden konnte… Eine Hölle, die später spürbar wird oder werden kann… Zusammen mit einer/m AnalytikerIn… Irgendwann, wenn man vielleicht genügend vertraut… oder vielleicht wenn der/die AnalytikerIn “genügend sicher“ in einem (verankert) ist… Dann kann es vielleicht aufbrechen…