„Es sind doch nur Gedanken.“ – „Nein!“

„Die Situation an sich ist so wie sie ist. Was sie so unerträglich macht, sind die Gedanken dazu. Unsere Bewertung entscheidet darüber, ob etwas gut ist oder schlecht“, sagen manche. Ich denke, diese Sichtweise nur auf eine relativ hohe Ebene des psychischen Funktionierens zu. Ich denke, dass es anders ist für Menschen, die frühe, andauernd schwere traumatische Erfahrungen gemacht haben. Da spürten sie genau: Zuerst ist da das Unerträgliche. Die Gedanken sind die Folge, um es zu begreifen. Sie hatten keinen anderen Menschen, der das Unerträglich mit ihnen ertrug.
Donald Winnicott sagt in seinem Beitrag „Die Angst vor dem Zusammenbruch“ (pep-web): „Dennoch muss zugestanden werden, dass es, sehr grob gesagt, zwei Arten von Menschen gibt: diejenigen, die keine wesentliche Erfahrung eines mentalen Zusammenbruchs in der frühen Kindheit mit sich tragen, und diejenigen, die eine solche Erfahrung tragen und daher davor fliehen, damit flirten, sich davor fürchten und bis zu einem gewissen Grad ständig mit dieser Drohung beschäftigt sein müssen. Man kann wahrlich sagen, dass das nicht fair ist.„
Wer solch einen frühen Zusammenbruch erlebt hat, der kann sich nicht einfach nur sagen: „Es sind nur Gedanken.“ Denn es handelt sich um tiefste Empfindungen bzw. Zustände von Körper und Seele und um ein mentales Geschehen, das wir bisher erst kaum erforschen konnten. Aus der Not und aus verschiedensten Körperzuständen entstehen die vielfältigsten Gedanken. Es ist sehr wichtig, sie zu denken, denn sie sind im Notzustand auch ein wichtiger Organisator, der dabei hilft, dass nicht alles zusammenbricht.
Ein Baby, das Gewalt erfährt, erlebt vermutlich Todesangst. Es ist die Hölle für dieses Baby. Kein Bewerten. Kein Denken. Es fühlt ohne Worte: Das hier ist die Hölle. Und diese innere Hölle bleibt und wird immer wieder geweckt durch die verschiedensten Körperempfindungen, Umstände und Phantasien. Die Gedanken sind meistens die Folge, nicht die Ursache des Geschehens. Sie können natürlich dann die Sache verschlimmern oder verbessern – oft aber haben sie gar keinen Einfluss auf diese ursprünglichen, meist schrecklichen Empfindungen und Zustände.
Jedes Mal, wenn ich lese oder höre, dass es nur darauf ankomme, wie wir die Dinge bewerten und wie wir darüber denken, fühle ich eine abgrundtiefe Schlucht zwischen dem Gesagten und dem, was ich täglich in meiner Praxis an Leid miterlebe. Wie es uns geht, ist nicht nur das Ergebnis dessen, wie wir über die Dinge denken. Es ist vor allem das Ergebnis dessen, was wir fühlen und erleben. Direkt und unmittelbar. Ganz ohne Bewertung.
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Dieser Beitrag entstand erstmals am 26.2.2019
Aktualisiert am 7.5.2023