
„Psychische Narbe“ – immer wieder ist dieser Begriff zu lesen und zu hören. Doch lassen sich Bilder vom Körper auf die Seele so einfach übertragen? Die seelische Narbe macht, dass man keinen Zugang zur Wunde mehr hat. Die Verbindung zur ursprünglichen Wunde ist durch kreuz-und-queres Bindegewebe verstellt. Doch Psychoanalyse ähnelt der Chirurgie, wenn wir in der Körpersprache bleiben wollen. Schicht um Schicht wird das Verworrene, das Verhärtete abgetragen. Bis man an der Wunde landet wie an einem tiefen See.
Die Wunde wird sichtbar, sie ist warm und spürbar. Endlich. Die Verbindung ist hergestellt, die Zusammenhänge werden klarer, Pulsieren und Lebendigkeit kehren zurück. Und zusammen mit einem anderen Menschen, der bei einem sitzt, kann man sie anschauen und fühlen. Ein nachträglicher Zeuge ist nun dabei. Endlich lassen sich die bisher unerklärlichen Schmerzen erklären. Endlich ist man auf den Boden gestoßen.
Denn sie heilt nicht unter der Narbe. Sie ist da.
Der Grund ist erreicht und eine kleine Sicherheit wird spürbar: Es geht nicht mehr tiefer. Hier ist der Boden. Und dann die Frage: Will ich diese Wunde wieder verschließen, wieder vernarben lassen? Hier hört der Vergleich zum Körper vielleicht auf. Ich will vielleicht etwas darüber legen können, aber ich will Zugriff auf meine Wunde haben. Ich will sie offen lassen, damit ich zu ihr gehen kann, damit ich sie hören kann, wenn sie mich ruft, damit ich sie sehen und ich mich ihr zuwenden kann, wenn ich wieder einmal glaube, dass mir alles rätselhaft erscheint. Ich will sie respektieren können.
sylphes meint
…tatsächlich, ich habe die Wunde geöffnet, und so weh es auch tut, ich will sie gar nicht schliessen, im Gegenteil, ich bin dankbar, dass sie endlich (wieder?) klafft und blutet, und ich endlich wage, sie mir genau anzuschauen. Endlich kümmere ich mich um sie.
Ich wünsche allen den Mut, die Wunde zu öffnen. Und die/den passende/n Therapeut/in, um dich dabei zu begleiten.