Einsam – mit oder ohne Familie

„Ich habe Kinder, aber ich habe keine Familie“, sagt eine alleinerziehende Mutter. Viele können diesen Satz sehr gut nachempfinden. Wer chronisch einsam ist, ist es oft deshalb, weil er schon in unsicheren Bindungen groß wurde (Benoit und DiTommaso, 2020). Obwohl viele eine Ursprungsfamilie haben, so haben sie doch keine Familie, die auf gute Weise für sie da ist. Manche haben auch tatsächlich keine Familie (mehr). Dann ist die Versuchung groß, zu glauben: „Wenn ich eine Familie hätte oder hoffentlich eines Tages haben werde, dann geht es mir gut.“ Doch während man es denkt, begeht der vermeintlich glücklich verheiratete Nachbar, Jurist und Vater von drei gesunden Kindern, Suizid.

Das Gefühl von Vitalität und Erfüllung kann unabhängig vom Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein einer Familie entstehen. Doch wenn man schon mal einsam ist, kann man es auch als kreative Quelle nutzen. Das Gefühl, erfüllt zu sein, hängt auch davon ab, ob man zu sich selbst und zu anderen – insbesondere auch zu Fremden – einen guten Kontakt aufbauen kann. Das ist manchmal so mühselig wie ein Instrument zu lernen. Es braucht viele, viele frustrane Momente. Du kannst z.B. jeden Tag zur selben Zeit zur selben Bäckerin gehen. Eine richtig lange Zeit. Und irgendwann macht es auf einmal Spaß. Du erfährst vielleicht etwas Neues, mit dem Du nicht gerechnet hättest.

Wenn Du die Fähigkeit entwickelst, in guten Kontakt mit Dir selbst zu treten, wirst Du auch zunehmend guten Kontakt zu anderen haben zu können. Dieser Weg geht oft über den eigenen Körper, den man langsam kennenlernen kann, z.B. über eine Form der Bewegungsmeditation (TaiChi, Yoga, langsames Schwimmen oder ähnliches). Der Weg geht zudem oft über einen guten Lehrer – egal, ob Du einen Sport, eine Kunst oder ein Musikinstrument erlernst: Der gute Kontakt zu einem Lehrer kann Dir genug Energie geben, um Dir Gutes in kleinen Schritten zu erarbeiten.

Man kann mit oder ohne Familie einsam sein. Man kann aber auch mit oder ohne Familie nicht einsam sein.

Die eigene Kreativität wiederfinden

Einsamkeit bedeutet oft Lähmung. Die eigene Kreativität scheint erstickt zu sein. Solche Durststrecken im Leben können sehr lang sein. Möglicherweise fühlst Du Dich resigniert und ermattet. Kein Funke Kreativität scheint mehr da zu sein, besonders in der dunklen Jahreszeit. Doch wenn die Kreativität wieder wach wird, geht die Einsamkeit meistens zurück. Vielleicht findest Du Texte, die Dir helfen, weil sie Dir aus der Seele sprechen. Alte Gedichte oder Psalmen können überraschen:

„… denn ich weiß weder aus noch ein. Meine Augen sind vom Weinen ganz verquollen, ich bin mit meiner Kraft am Ende. Unter Kummer schwindet mein Leben dahin, unter Seufzen vergehen meine Jahre. Meine Schuld raubt mir alle Kraft und lähmt meine Glieder. … Man hat mich vergessen wie einen, der schon lange tot ist; wie ein zerbrochenes Gefäß bin ich, das achtlos weggeworfen wurde.“ (Psalm 31.10 folgende)

Es kann uns ein mulmiges Gefühl machen, wenn niemand da ist, der sich uns verbunden genug fühlt, uns zu helfen, wenn wir in Not sind. Wer kommt uns im Krankenhaus besuchen, wenn wir da liegen? Der beste Schutz gegen die Einsamkeit kann zwar die Familie sein – aber es kann ein ebenso guter Schutz sein, wenn wir das Gefühl haben, wir können uns mit anderen Menschen verbinden. Wenn Du diese Fähigkeit weiter entwickeln möchtest, kann alles Mögliche hilfreich sein – ein Chor, eine Psychotherapie, ein Haustier, insbesondere aber auch eine Analytische Psychotherapie (wird von den gesetzlichen Kassen in der Regel gezahlt).

Die existenzielle Einsamkeit mag wohl zu jedem Menschen gehören. Wir müssen lernen, mit ihr zu leben. Doch gegen die Alltagseinsamkeit kann man Einiges tun.

Ganz wichtig: Nimm Dich und Deine Innenwelt ernst. Und nimm andere ernst.

Aufmachen

Wer einsam ist, dem geht die innere Türe zu. Ein anderer zeigt uns vielleicht seine Zuneigung, aber es weckt keine Gefühle in uns. Es ist, als käme nichts vom anderen bei uns an.

Es ist ähnlich wie mit dem Einatmen: Wir nehmen im gestressten Zustand nicht wahr, wie die Luft um uns herum riecht. Wenn wir einmal innehalten und bewusst einatmen, dann können wir unsere Nasenflügel und den Lufthauch spüren. Wenn wir Yoga in einem abgeschlossenen Raum machen, spüren wir vielleicht Langeweile und Einsamkeit. Doch wenn wir ein Fenster öffnen und die Luft von draußen spüren, kann sich unser Gefühl etwas verändern. Mit der Einsamkeit ist es ähnlich: Du kannst versuchen, im Gespräch mit dem anderen bewusst ernsthaft zu sein.

Versuche, Dich für Dich selbst zu interessieren. Kannst Du sagen, wie sich das genau anfühlt, was Du gerade fühlst? Über solch einen Fokus nach innen kann im Laufe der Zeit auch Dein Interesse an anderen Menschen wieder wach werden. Und so stellen wir dann manchmal fest, wie wir Antworten auf unsere eigenen Fragen im anderen finden und umgekehrt. Oft brauchen wir dafür gar nicht viel zu sagen oder tun. Es reicht manchmal schon, über sich und den anderen nachzudenken, gemeinsam zu schweigen oder irgendwo im Café zu sitzen, zu schauen und zu träumen.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Aryn Benoit und Enrico DiTommaso (2020):
Attachment, loneliness, and online perceived social support.
Personality and Individual Differences
Volume 167, 1 December 2020, 110230
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0191886920304190

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 12.12.2017
Aktualisiert am 6.11.2023

3 thoughts on “Einsam – mit oder ohne Familie

  1. Kati sagt:

    Vielen Dank für Ihre Antwort Frau Voos ! !

  2. Dunja Voos sagt:

    Liebe Kati,
    vielen Dank für Ihren Kommentar! Das ist schon viel wert, dass Sie eine Therapie machen und Sie genügend Vertrauen zu der Therapeutin haben, um sich ihr zu öffnen. Wenn die vertrauensvolle Beziehung zum Therapeuten eine Weile besteht, kann sich das Vertrauen auch auf andere Menschen ausweiten, aber da braucht man häufig Geduld.
    Wie man wieder „aufmachen“ kann, habe ich hier beschrieben: https://www.medizin-im-text.de/2017/47937/und-dann-habe-ich-zugemacht-aber-wie-macht-man-wieder-auf/
    Aber Texte nützen oft nur wenig, weil das eigene Leben so ganz anders aussieht. Es ist ein geduldiges „Herumprobieren“, aber vor allen Dingen auch „Wahrnehmen“.
    Zur Kreativität: Hier dachte ich an Flow-Zustände, in denen man sich in sein Tun vertieft wie ein Kind in sein Spiel. Da vergisst man alles um sich herum und fühlt sich auch nicht mehr so einsam. Wenn wir kreativ sind, haben wir eine gute Verbindung zu uns selbst. Manchmal können z.B. aus dem „Einsamkeits-Leid“ tolle Texte/Beiträge/Bücher/Gedichte entstehen.
    Viele Grüße und einen guten Weg!
    Dunja Voos

  3. Kati sagt:

    Liebe Frau Voos,

    vielen lieben Dank für diesen Artikel!! Ich habe seit Wochen mit schrecklichen Einsamkeitsgefühlen zu kämpfen, auch unter Menschen (das ist eine innere Einsamkeit ). Mir war gar nicht bewusst, dass man sich auch in einer intakten Familie einsam fühlen kann. Vielleicht nur dann, wenn man diese Einsamkeit schon von Kindheit an mit sich herum trägt.
    Im Moment lass ich nur meine Therapeutin mich innerlich etwas berühren, ich würde so gerne auch wieder andere an mich ranlassen, nur ich weiß gerade nicht wie!
    Wie kann man denn wieder aufmachen? Und wie meinten Sie das bzgl der Kreativität wieder finden? Das habe ich nicht ganz verstanden!

    Liebe Grüße
    Kati

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