Ego States – unaushaltbare Zustände anblicken

Wir können uns selbst wie eine innere Landschaft kennenlernen. Je nach Tagesform, Ort und Aufgaben haben wir verschiedene „Ich-Zustände“. Manchmal fühlen wir uns gut und sind dankbar für diesen Zustand. Aber vielleicht werden wir immer wieder überwältigt von unaushaltbaren Zuständen, die aus unserer Vergangenheit herrühren oder aus aktuellen Lebenslagen, die lange anhalten. Wir würden am liebsten weglaufen. Der Psychoanalytiker Paul Federn (1871-1950) sprach schon früh über Ich-Gefühle und Ich-Grenzen. Der italienische Psychoanalytiker Edoardo Weiss (1889-1970), ein Schüler von Paul Federn (1871-1950, Ich-Psychologe), arbeitete die Ich-Zustände weiter aus. Seine Freunde John Goodrich Watkins (1913-2012) und dessen Frau Helen Huth Watkins (1921-2002) entwickelten daraus die Ego-State-Therapie. Auch der Psychiater Eric Berne (1910-1970) entwickelte eine Ego-State-Theorie über seine Transaktionsanalyse (z.B. „Eltern-Ich“, Parent-Ego-State, Erwachsenen-Ich, Adult Ego State und „Kind-Ich“, Child Ego State) mit.

John Watkins war auf Hypnose spezialisiert und brachte die Patienten über die Hypnose mit ihren verdrängten Ich-Anteilen in Kontakt. Ziel war es, durch freundliches Annehmen auch unangenehme Zustände aufzuspüren und in das Seelenleben zu integrieren. Das Problem dabei ist, dass die seelischen Vorgänge so subtil sind, dass sie sich nur teilweise über Hypnose gezielt erfassen lassen.

Meiner Meinung nach bietet die Psychoanalyse durch die vielen Sitzungen eine größere Chance, das schwer Fassbare zu erfassen. Der Psychoanalytiker muss manchmal ähnlich wie ein Tierfilmer sehr lange auf seinem Platz sitzen und warten, bis das wilde Tier endlich auftaucht.

Ego-State-Therapeuten sprechen auch von einem „Inneren Team“, also von verschiedenen Anteilen, die dazu gebracht werden sollen, in Kontakt miteinander zu treten. Darunter werden z.B. Anteile verstanden wie der „innere Kritiker“ oder das verängstigte Kind. Dabei ist zu bedenken, dass der Begriff „Anteil“ den Gedanken auflassen kommen könnte, dass es sich um abgegrenzte, gut handhabbare seelische Bereiche handeln könnte. Tatsächlich aber sind bei schweren Traumata keine „Anteile“ vorhanden, sondern riesige Wellen, die den Betroffenen chaotisch überfluten.

Unangenehme Ichzustände sind schwer zu tolerieren

Manche Ich-Zustände können sehr quälend und zerstörerisch sein. Sie hängen meistens mit unseren psychischen Verletzungen zusammen. Wir können sie kaum benennen. Anders als bei bewussten „Rollen“, die wir annehmen, z.B. die Berufsrolle, die Mutterrolle etc., sind tiefgreifendere Ich-Zustände kaum benenn- und besprechbar.

In der Psychoanalyse werden im Liegen auf der Couch verschiedene Ich-Zustände sehr deutlich bewusst. Der Patient kann unangenehme Zustände wieder genau fühlen. Er kann sie in Zusammenhänge mit Geschehnissen, Erinnerungen, Gefühlen und Phantasien setzen. Dabei können Narrative entstehen, also Geschichten, die dem Erlebten eine Form geben. Im Laufe der Analyse lernt der Patient auch, die unaushaltbaren Ich-Zustände besser zu tolerieren. Das ist eine mühsame, oft jahrelange Arbeit. Viele Menschen haben Unvorstellbares erlebt.

Die „Ich-Zustände“ hängen eng zusammen mit unseren inneren Objekten, also den „Menschen in uns“. Wenn wir an unsere Mutter denken, fühlen wir uns wahrscheinlich anders, als wenn wir an unseren Chef oder unsere kleinen Geschwister denken. Auch unsere innere Stimme hat Einfluss auf unseren Ichzustand.

Im Schlaf und beim Einschlafen haben wir andere Ich-Zustände als im Wachen.

Während John und Helen Watkins eher davon ausgingen, abgespaltene „Ego-States“ über die Hypnose zu erreichen, können Psychoanalytiker diese Zustände durch die Faktoren Couch, tranceartiges Arbeiten und hohe Frequenz (z.B. vier Termine in der Woche) ebenfalls mit ihren Patienten gut bearbeiten.

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Links:

Dunja Voos (2020):
Schatten der Vergangenheit.
Trauma liebevoll heilen und innere Balance finden
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Ruth Riesenberg-Malcolm (2003):
Unerträgliche seelische Zustände erträglich machen.
Psychoanalytisches Arbeiten mit extrem schwierigen Patienten.

Verlag: Stuttgart, Klett-Cotta, 2003
zvab.com

Luise Reddemann (2009):
Ego State Therapie, ein Bindeglied zwischen Psychoanalyse und Hypnotherapie
Hypnose-ZHH 4, Oktober 2009, S. 207 ff
https://meg-stiftung.de/index.php/de/publikationen/6-hypnose-zhh/15-hypnose-und-psychodynamik

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 13.10.2022

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