Nach Aufwachsen bei einer dominanten Mutter: Wer ist das Zentrum?

Wer bei einer überstrengen, vielleicht gewalttätigen, verletzlichen Mutter aufwuchs, der hat oft gelernt: „Ich muss mich nach ihr richten. Ich muss schauen, wie es ihr geht. Ich muss sie vorsichtig behandeln.“ Dieses „Schema“ übernehmen wir dann häufig auch für alle anderen Menschen, während unsere eigene Gefühlswelt sich meistens auf nur ein einziges Gefühl beschränkt: Die Angst.

Doch „Angst“ heißt sehr oft, dass dahinter ganz viele andere Gefühle stehen wie Neid, Wut, Ablehnung, Eifersucht, Ekel oder Hass. Wenn wir den anderen als Zentrum nehmen, dann bewegen wir uns ängstlich um ihn. Und dabei verleugnen wir unsere eigene Wahrheit. In Wahrheit sind wir gerade vielleicht voller Ablehnung, aber spüren das nur unterschwellig, weil es uns wichtiger ist, den anderen zu erspüren.

Dem anderen geht es besser als mir

Wir haben vielleicht das Gefühl, dass andere Menschen leichter respektiert werden, während auf uns selbst immer herumgehackt wird. Das, was die anderen aber so „Respekt-einflößend“ macht, ist, dass sie sich selbst zum Zentrum machen. Das heißt, wenn der andere Ablehnung spürt, dann hat er auch kein Problem damit, diese sichtbar sein zu lassen. Der andere macht sich selbst zum Zentrum.

Wenn ich als ängstlicher Mensch Ablehnung spüre, dann versuche ich sie bis ins hinterste Eck zu verdrängen. Ich denke: Der andere ist vielleicht so empfindlich wie meine Mutter es immer war – der verträgt mein Gefühl der Abneigung nicht.

Ich in der Mitte der Welt

Irgendwann packt einen die Wut. Man macht eine Therapie und macht sich selbst zum Zentrum. „Ich möchte jetzt bitte, dass das Fenster geöffnet ist, denn mir ist es zu warm“, sagen wir dann. Wir schlagen vielleicht ins Gegenteil und übergehen die anderen. Das ist aber nicht besser – wir sind weiterhin nicht wirklich im Kontakt mit uns oder dem anderen, weil immer eine Seite erschlagen wird. Vorher erschlug ich mich selbst, jetzt erschlage ich den anderen.

Die Kunst ist es, das Zusammenspiel fein auszutarieren.

Was fühle, denke und glaube ich selbst?

Oft bin ich verwirrt, wenn ich auf viele Meinungen stoße: Der eine sagt das, der andere sagt das. Ja, was denn nun? Was ich selbst denke, meine und glaube, ist mir selbst völlig fern. Das ist besonders in engen Beziehungen oder in Abhängigkeiten so wie z.B. in einer Ausbildung.

Wir machen den anderen zum Zentrum und gleichen es dann vielleicht mit uns selbst ab. Was meinen wir dazu? Wir könnten aber auch zuerst uns selbst befragen und es dann mit der Meinung des anderen abgleichen.

Was wir selbst erleben, ist uns einigermaßen sicher

Manchmal sind die anderen gar nicht so viel anders als wir selbst, manchmal sind sie jedoch auch völlig anders. Wenn ich mich selbst zum Zentrum nehme, lasse ich mich vielleicht ein bisschen weniger verwirren. Wobei ich immer bedenken muss, dass auch mein „Zentrum“ aus vielen verschiedenen inneren Stimmen bestehen kann.

Wir wissen es eben oft (noch) nicht. Aber wir können versuchen, einmal das Augenmerk darauf zu legen, wann wir uns selbst verlassen.

Wenn ich mich selbst zum Zentrum mache, dann verleugne ich mich selbst nicht länger. Ich „stehe zu mir“, heißt, ich erkenne meine eigene innere Wahrheit an. Und darum geht es: Um die Wahrheitssuche. Wenn ich nur den anderen berücksichtige, dann übersehe ich einen Teil der ganzen Wahrheit.

Und für mich ist das eine der größten Motivationen, mich selbst nicht zu verlassen: Ich suche die Wahrheit. Und dazu gehört immer auch, sich selbst zu befragen und sich in Frage zu stellen. Der andere möchte im Kontakt selbst so berücksichtigt werden wie wir selbst auch. Und wir müssen immer wieder neu das Gleichgewicht suchen.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 10.10.2020
Aktualisiert am 6.4.2022

One thought on “Nach Aufwachsen bei einer dominanten Mutter: Wer ist das Zentrum?

  1. Karin sagt:

    War die Mutter über viele Jahre hinweg dominant vor allem als schwerkranke und früh verstorbene Frau, ist nochmals ein Unterschied im eigenen Gefühl zu finden. Sie ging ja sozusagen unter in Dominanz. Sich die Herausforderung zu gönnen, diese Vorgabe nicht anzunehmen, ist eine gute Wahl.

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