Introjekte – wen haben wir denn da gefressen?

Mit dem Körper können wir uns etwas einverleiben und es wieder ausstoßen. Seelisch tun wir dasselbe: Wir nehmen einen anderen in uns auf – wir können uns an ihn erinnern, wenn er nicht da ist. Wir können ihn als Bild und als Gefühl mit uns tragen. Wir können den anderen nachmachen, also uns in seine Haut hineinversetzen und uns so fühlen wie er sich vielleicht fühlen mag. Babys nehmen als Erstes die Mutter(milch) auf – sie schauen die Mutter an und verinnerlichen sich ihre Blicke, ihre Mimik, ihr Gesicht. Wenn wir uns etwas seelisch einverleiben, dann „introjizieren“ wir es. (Text: Dunja Voos, Bild: © Children’s Community Jhamtse Gatsal)

Als Kinder übernahmen wir viele Vorstellungen und Glaubenssysteme unserer Eltern. Wenn wir das Gesicht unserer Mutter in uns aufnahmen, während sie uns fütterte, dann kann dabei die Phantasie entstanden sein, dass wir irgendwie ein Stück der Mutter in uns aufgenommen haben. Diese Gleichsetzung bleibt vielleicht immer irgendwie in unserer Psyche bestehen. Bei psychisch schwer gestörten Kindern kommt dieses ursprüngliche Bild der „Inkorporation“, also der Einverleibung, noch häufig vor, z.B. indem Kinder davon träumen, dass sie jemanden aufgegessen hätten.

In dem wunderschönen Film „Tashi und der Mönch“ wird ein schwer gestörtes Mädchen gezeigt, das mit nichts anderem beschäftigt ist, als andere zu ärgern und Dinge zu zerstören. Eindrücklich spricht das Mädchen immer wieder davon, wie ein böser Geist ihren Vater und ihre Mutter gegessen hat. (Der Mönch ist Lobsang Phuntsok, Gründer des Kinderdorfes Jhamtse Gatsal, Tezpur, Assam, Indien.)

Als ihr ein großer Bruder zur Seite gestellt wird, erzählt sie auch ihm, dass sie ihn im Traum gegessen hat. Er fragt: „Und, wie habe ich geschmeckt?“ Sie sagt: „Gut!“

Wenn die normale psychische Inkorporation nicht gelingt

Was so rührend, vielleicht lustig, klingt, ist eine ernste Sache. Die „normale“, entwicklungsgemäße Inkorporation (Einverleibung) der Mutter hat möglicherweise nicht geklappt – aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht waren die Eltern gewalttätig, vielleicht waren sie aber auch abwesend oder sind selbst Opfer schrecklicher Gewalt geworden. Das geht aus dem Film nicht hervor. Doch die Beschäftigung der Kleinen mit dem „Fressen und Gefressenwerden“ weist auf ein schweres frühes Schicksal hin.

„Ich will Dir fressen!“, sagt der Drache Poldi bei „Hallo Spencer“. (Youtube)

Auch bei Erwachsenen tauchen Ideen von „Fressen und Gefressenwerden“ auf. In der christlichen Religion gibt es das „Abendmahl“, bei dem in der Vorstellung der „Leib Christi“ gegessen wird. Menschen, die verstärkt unter der Phantasie oder dem Gefühl der „Inkorporation“ leiden, haben nahezu ständig Schuldgefühle, die sich zunächst nicht so leicht erklären lassen. Diese Schuldgefühle könnten daher rühren, dass sie möglicherweise die unbewusste Phantasie oder Körperempfindung haben, die Mutter, den Psychoanalytiker oder andere bedeutsame Menschen aufgegessen zu haben – solche Zusammenhänge können die Betroffenen in einer Psychoanalyse mitunter in Worte fassen.

Eine Patientin sagt zu ihrem Psychoanalytiker: „Als ich meine Magen-Darm-Grippe hatte und alles auskotzen musste, da habe ich mir vorgestellt, ich würde Sie auskotzen! Das war wie eine große Befreiung.“

Hineingeworfen

Introjekte (wörtlich: „Hereingeworfene“) sind vereinfacht gesagt Bilder von nahen Bezugspersonen, die wir in uns aufgenommen haben. Auch kann es sich um Körperempfindungen handeln, die wie eine Erinnerung auftauchen, wenn wir an diese Personen denken. Es sind Körperempfindungen, die wir im Zusammensein mit den wichtigsten Bezugspersonen hatten: Wir wurden gehalten, gewickelt, gestillt, berührt, gestreichelt oder aber auch geschlagen. Oft sind uns unsere Introjekte unheimlich. Sie werden sehr unterschiedlich erlebt. Manche Menschen sprechen von dem Gefühl, Engelchen und Teufelchen auf den Schultern sitzen zu haben, andere fühlen sich von ihrer Mutter im Kopf verfolgt. Der Berliner Psychoanalytiker Hermann Beland (DPV) schreibt:

(Der Psychoanalytiker Roy) Schafer weist mehrfach darauf hin, dass die räumliche Lokalisierung dieser Präsenzen ganz unterschiedlich erlebt wird: Sie können außerhalb des Körpers, im Körper oder einfach nur unbestimmbar da sein.“
Hermann Beland: Die unbewusste Phantasie. Kontroversen um ein Konzept
Forum der Psychoanalyse, Band 5, Heft 2, Juni 1989, S. 92

Hermann Beland schreibt unter der Überschrift „Tagtraum und Introjekt bei Roy Schafer“ weiterhin: „Introjekte sind wunscherfüllende Tagtraumvergegenwärtigungen der Gegenwart einer anderen Person, benigne, oder feindselige oder depressive.“ (S. 91)

Mit guten Introjekten fühlen wir uns gut und stark. Oft aber haben wir ein Fremdgefühl und empfinden unsere Introjekte als schlecht.

Die guten und schlechten Stimmen in uns

Wenn wir gute Introjekte haben, fühlen wir uns beschützt. Die gute Oma in uns macht uns Mut und sagt: „Du schaffst das schon.“ Aber wozu brauchen wir die schlechten Introjekte? Die Vorstellung vom Vater, der hämisch lacht und sagt: „Ich hab’s doch gleich gewusst!“? Hermann Beland zählt einige Vorteile“ auf, die schlechte Introjekte für uns haben können (S. 92).

Der Nutzen, den negative Introjekte für uns haben, kann demnach vereinfacht gesagt so aussehen:

  • Wir können unseren Masochismus ausleben, indem wir unter dem bösen Introjekt leiden.
  • Wir können unser Bedürfnis nach Strafe befriedigen, denn das Introjekt uns bestraft und unsere Pläne durchkreuzt.
  • Wir wiederholen schmerzhafte Geschichten, die wir mit nahen Bezugspersonen erlebt haben. Unser böses Introjekt tobt in uns und wir hoffen, dass es sich irgendwie beruhigt und dass die Geschichte endlich gut ausgeht.
  • Wir haben das Gefühl, dass „das Böse in uns“ gar nicht wir selbst sind. Es hat ein Gesicht oder taucht als unbestimmbares Gefühl auf.
  • Wir suchen uns ein schlechtes Objekt, „weil ein schlechtes Objekt einem zu verführerischen vorzuziehen ist.“ (Beland, S. 92)
  • Wir können uns zusammen mit dem Introjekt mächtiger fühlen.
  • Wir haben das Gefühl, uns am anderen gerächt zu haben: „Den hab‘ ich ja gefressen!“ So besitzen wir ihn, aber wir müssen seine Rache fürchten und ihn kontrollieren. Das können wir am besten, indem er immer bei uns ist.
  • Um unsere aggressiven Wünsche unmerklich zu befriedigen, kämpfen wir mit dem inneren Vater/mit der inneren Mutter und fühlen uns dabei gleichzeitig unschuldig.
  • Wir hassen lieber das innere Objekt als uns selbst.

Es gibt wahrscheinlich viele weitere Gründe, warum auch negative Introjekte für uns sinnvoll sein können. Bei psychotischen Patienten sind diese Mechanismen anscheinend verstärkt. Hier erleben die Betroffenen es zum Beispiel so, dass die negativen Introjekte sich als Stimmen bemerkbar machen, die den Betroffenen dann befehlen, zerstörerische Dinge zu tun.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 28.3.2016
Aktualisiert am 1.11.2023

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