Täterintrojekt – was ist das?

Unter „Introjekt“ versteht man etwas, das man von einem anderen in seine Seele aufgenommen hat. Das Introjekt ist eine Vorstellung von einem anderen Menschen, der sozusagen zum Teil des eigenen Selbst geworden ist. Es ist ähnlich wie mit der „Identifizierung“: Wenn ich mich mit dem Vater „identifiziere“, dann sage ich: „Ich will WIE der Vater sein.“ Wenn ich aber den Vater sozusagen psychisch „verpeise“, dann BIN ich der Vater, dann ist der Vater zu meinem Introjekt geworden (jactare = lateinisch: schleudern, werfen. Das Introjekt ist also das in mich Heingeworfene). Ein „Täterintrojekt“ ist ein Teil des Täters, den wir uns zu eigen gemacht haben.

Wenn uns z.B. unser Vater immer geschlagen hat, dann übernehmen wir vielleicht seine grausame Seite und schlagen wiederum andere oder gar uns selbst. Wir können uns selbst so behandeln, wie uns einst der Täter behandelte. Dann kann man sagen: Das „Täterintrojekt“ ist in uns wirksam.

Das Problem mit diesem Begriff ist jedoch oft, dass wir uns selbst aus der Verantwortung stehlen. Wenn wir uns also bildlich gesprochen selbst beißen oder schlagen, können wir sagen: „Das bin ja gar nicht ich, sondern das ist der böse Vater (oder der böse Vater-Anteil) in mir.“

Manchmal erleben wir unsere eigenen „bösen Kräfte“ als etwas Fremdes. Manche erleben das Böse in sich als so gefährlich, dass sie „schizophren“ werden und z.B. sagen oder auch erleben: „Ich heiße Tim, doch derjenige, der die Flaschen zerschlagen hat, das war Kim.“ Doch letzten Endes sind wir selbst es, die aggressiv, grausam, gewalttätig und verletzend sind.

Wir sind wahrscheinlich so geworden, weil wir selbst grausam behandelt wurden. Auch die Täter selbst wurden nicht einfach so zum Täter. Andererseits gehören diese Seiten eben auch zum Menschsein dazu. Wenn wir jedoch bei grausamen Eltern groß wurden, haben wir nicht gelernt, diese Kräfte in uns wahrzunehmen, sie zu containen und verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen. Wenn wir kaum das Gefühl von Selbstwirksamkeit haben, dann glauben wir, dass „uns die Hand ausrutscht“.

Diese Wut hört niemals auf

Wenn wir wütend werden, dann erinnern wir uns an die ohnmächtige Wut unserer Kindheit und schlagen dann vollends zu. Der Drang, zu handeln, wird in unserer riesigen Wut riesig groß. Bei ausreichend guten Eltern haben Kinder keinen Grund, so übermenschlich wütend zu werden. Die Wut wird dort also nicht im Kind gezüchtet und nimmt nur „normale“ Ausmaße an. Wenn ich ausreichend gute Eltern hatte, dann wird meine eigene Wut in der Regel nicht so überwältigend. Wenn meine Wut jedoch schon als Kind so riesig war, dann brodelt sie in mir und überkommt mich. Dann wünschte ich manchmal, das wäre nicht ich selbst, sondern eben mein „Täterintrojekt“.

Die Frage ist also auch, ob wir unser „böses Verhalten“ als „ich-synton“ oder „ich-dyston“ erleben. Bei ichsyntonem Verhalten haben wir gar nicht erst das Gefühl, dass wir merkwürdig fühlen, denken oder handeln. Bei ichdystonem Verhalten spüren wir, dass das, was wir tun, irgendwie nicht wir selbst sind. Beispielsweise werden Zwangsgedanken oft als „Ich-dyston“ erlebt – so, als könnten wir nichts dafür. Die Therapie besteht oft darin, zu erkennen, wofür die Zwangsgedanken stehen: Zum Beispiel wollen wir mit unseren Zwangsgedanken oft unerwünschte Gefühle oder Phantasien wegdrücken. Je besser wir unsere inneren Mechanismen verstehen, desto besser können wir sagen: „Ja, das bin ich selbst, der das so tut, denkt und fühlt.“ Manchmal besteht therapeutischer Fortschritt jedoch auch darin, dass man auf einmal die eigenen Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen in Frage stellen kann und bemerkt: „Das ist ja meine Mutter, die aus mir spricht“, oder: „Das will ich doch eigentlich gar nicht.“

Manchmal ist das „Täterintrojekt“ oder das „Maligne Introjekt“ mit dem eigenen Ich ganz eng verpappt. Vielleicht könnte man es so beschreiben: Manchmal merke ich körperlich und psychisch: „Da ist es wieder!“ Da ist dann diese Kraft in mir, die sich mich scheußlich fühlen lässt. Diese Kraft ist fast ungetrennt von mir selbst und doch scheint es, als wäre da eine dünne Pappschicht zwischen dieser Kraft und mir. Es ist dann vielleicht, als würde ich innerlich verbrennen oder als würde sich eine dunkle Flüssigkeit in mir ausbreiten oder als müsste ich mir weh tun, um ein Gegengift von außen gegen den inneren Schmerz bereitzustellen. Ich kann nichts tun außer zu warten, dass dieser Zustand vorübergeht. Dieser Zustand ist wie eine wachgewordene Erinnerung.

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Links und Lesetipps:

M.I.P. Mitteldeutsches Institut für Psychoanalyse Halle e.V.
Psychotraumatherapie SPIM 30
Somatisch-Psychologisch-Interaktives-Modell in der Standardversion 30
für komplextraumatisierte/dissoziative Störungen
https://mip-halle.de/psychotraumatherapie-spim-30/

Ralf Vogt (Hrsg.):
Täterintrojekte. 
Diagnostische und therapeutische Behandlungsmodelle für dissoziative Strukturen.
Asanger, Kröning 2012, 281 Seiten, gebunden, 39,50 Euro
https://asanger.de/titeluebersicht/psychotherapieanalyse/taeterintrojekte.php

Breitenbach, Gaby und Requardt, Harald:
Dissoziative Strukturen: Zeit und Bindungsbereitschaft
aerzteblatt.de, PP 11, NOvember 2012, Seite 523
https://www.aerzteblatt.de/archiv/132453/Dissoziative-Strukturen-Zeit-und-Bindungsbereitschaft

„Ein Verdienst dieser Arbeit ist es, zu verdeutlichen, dass mit zunehmender Gewalt introjeziertes Material immer Ich-dystoner, unbewusster und immer weniger distanzierbar wird, so dass es sich eben tatsächlich um „fremdes“ Material handelt, das Menschen (von einem Täter) erzwungenermaßen in sich aufnehmen mussten.“

Vogt, Ralf (2004):
Beseelbare Therapieobjekte.
Strukturelle Handlungsinszenierungen in einer körper- und traumaorientierten Psychotherapie.
Gießen: Psychosozial-Verlag.

Buchtipp:

Dunja Voos:
Schatten der Vergangenheit.
Trauma liebevoll heilen und innere Balance finden.

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