107 Wie wird man Psychoanalytiker? Mit der Deutung innerlich spielen

In der Psychoanalyse geht es viel um’s Spielen. Sobald die Dinge konkret werden, hört das Spiel auf. Spielen bedeutet, geistig beweglich zu bleiben und die Dinge mal von rechts, mal von links zu betrachten. Manchmal fällt einem als Analytiker hinter der Couch früh eine Deutung ein, zum Beispiel: „Vielleicht zeigt sich in dem, was Sie hier erleben, wie es Ihnen mit Ihrer Mutter ging. Auch die Mutter hatte kein offenes Ohr für Sie.“

So eine Deutung kann etwas in Gang bringen und weitere Ideen entstehen lassen. Sie kann aber auch etwas „töten“. Sie kann den Patienten zunächst zufriedenstellen und den Assozisationsprozess beenden. In jeder Situation zeigt sich neu, wann man eine Deutung am besten ausspricht.

„Vielleicht habe ich da gerade etwas verstanden“

Wenn man jedoch die Deutung in sich behält und sie nicht gleich ausplaudert, entsteht ein innerer Raum. Man kann auf einmal mit dem entsprechenden Ohr hören. Passt das, was die Patientin erzählt, zu meiner inneren Deutung? Könnte ich da richtig liegen oder irre ich mich? Welche weitere Aspekte tun sich auf?

Manchmal kann der Eindruck entstehen, der Analytiker ließe den Patienten zappeln. Es kann sehr unangenehm werden, eine Deutung zurückzuhalten und die Spannung entstehen zu lassen. Kann ich als Analytiker*in diese Spannung aushalten?

„Wir versäumen dabei aber nie, unser Wissen und sein [des Patienten] Wissen strenge auseinander zu halten. Wir vermeiden es, ihm, was wir oft sehr frühzeitig erraten haben, sofort mitzuteilen oder ihm alles mitzuteilen, was wir glauben erraten zu haben. Wir überlegen uns sorgfältig, wann wir ihn zum Mitwisser einer unserer Konstruktionen machen sollen, warten einen Moment ab, der uns der Geeignete zu sein scheint, was nicht immer leicht zu entscheiden ist.“ …
„In der Regel verzögern wir die Mitteilung einer Konstruktion, die Aufklärung, bis er [der Patient] sich selbst derselben so weit genähert hat, dass ihm nur ein Schritt, allerdings die entscheidende Synthese, zu tun übrig bleibt. Würden wir anders verfahren, ihn mit unseren Deutungen überfallen, ehe er für sie vorbereitet ist, so bliebe die Mitteilung entweder erfolglos oder sie würde einen heftigen Ausbruch von Widerstand hervorrufen …“
Sigmund Freud: Die Psychoanalytische Technik. Aus: Abriss der Psychoanalyse (1940), GW (Gesammelte Werke), Band 17, S. 103, Projekt Gutenberg

Der Aufbau der Spannung bis zum Aussprechen der Deutung kann sehr sinnvoll sein, denn es kann zu den aversiven Affekten führen, die der Patient und vielleicht auch der Analytiker oft vermeiden wollen. Doch hier eröffnen sich dann vielleicht Welten der Vergangenheit, die sich dann endlich erkunden lassen. Es findet also eine spürbar fruchtbare Reise in die „aversive Welt“ statt.

Wenn uns hinter der Couch eine gute Deutung einfällt, sind wir manchmal ganz begeistert. Wir möchten sie dem Patienten gleich mitteilen. Er könnte uns dann dankbar sein oder uns sogar bewundern. Doch oft ist es viel belebender, die gefundene Deutung eine ganze Weile in sich zu tragen.

Oft ergibt sich aus der Zurückhaltung der Deutung für beide ein belebendes, befreiendes und interessantes Spiel. Der Patient assoziiert und der Analytiker kann die Assoziationen des Patienten um seine innere Deutung (die ja eine Hypothese ist) herumtanzen lassen. Wenn man es schafft zu warten, merkt man oft, wie der Patient über Assoziationen selbst zu der Deutung findet, die man als Analytiker schon länger im Kopf hat.

Für den Patienten ist es dann häufig ein „geburtsartiges“ Gefühl, wenn er sozusagen am „Ziel“ seiner Assoziationen angekommen ist, weil er spürt, dass er selbst den Weg auf die Welt gefunden hat. Er selbst hat zum Verstehen gefunden. Auch für den Analytiker ist das ein schönes Gefühl. Ein bestätigendes „Ja“ oder „Aha!“ gibt dem Patienten die Rückmeldung, dass man gemeinsam eine Vermutung hatte, die sich nun als plausibel bestätigt.

Schon während der Analytiker seine Deutung still in sich trägt, kann es dazu kommen, dass der Patient sich tief verstanden fühlt. Er spürt die Resonanz des Analytikers auf seine Innenwelt. Es ist, als reagierte er auf die Deutung, die sich der Analytiker schon zurechtgelegt hat.

Das Spiel mit der inneren Deutung, die nicht ausgesprochen wird, kann beiden viel Freude bereiten und einen verstehenden „Spielraum“ eröfffnen.

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