45 Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Die psychoanalytische Deutung erlernen

Ein Psychoanalytiker hört lange zu und deutet dann. Er findet im Dickicht eine Lichtung, beschreibt das Gefühl oder Bild, das in ihm entstanden ist, er hat eine Idee, errät den Zustand des Patienten oder stellt einen bisher nicht gesehenen Zusammenhang her. „Deutung“ in der Psychoanalyse heißt vereinfacht: etwas Unbewusstes bewusst werden lassen. Eine Deutung weist auf die „Bedeutung“ von etwas hin. Doch wann ist das, was der Analytiker sagt, nur eine Äußerung, und wann eine Deutung? Wenn eine Deutung (englisch: Interpretation) zutrifft, dann sind Patient und Analytiker oft berührt und erleichtert. Beide haben dann das Gefühl, etwas verstanden zu haben.

Eine korrekte Deutung ist sowohl für den Patienten als auch für den Analytiker häufig eine Überraschung (Bion in Grotstein: A Beam of Intense Darkness, Karnac 2007, S. 83). Kommt eine Deutung zu früh, „wird sie von niemandem gehört“ (Anne Marie Sandler: Encounters through generations, Youtube). Der Analytiker sollte die Deutung erst aussprechen, wenn er das Gefühl hat, dass der Patient sie verdauen kann, also dass der Patient „deutungsbereit“ ist. Deutungen kommen dem Analytiker am besten im Zustand der frei schwebenden Aufmerksamkeit – sie haben oft etwas Träumerisches.

Die erleichternde Deutung wird vom Patienten oft ersehnt. Der Analytiker sieht sich manchmal unter dem Druck stehen, etwas Hilfreiches zu sagen. Doch wenn der Analytiker sich anstrengt und sich zu einer Deutung quält, hat sie nur wenig Wert. Es kann wichtig sein, dem Erwartungsdruck des Patienten zu widerstehen. Auch könnte dieser Druck selbst gedeutet werden.

Passt: Psalm 119, 162: „Ich freue mich über dein Wort wie einer, der große Beute findet.“

Die Deutung hängt auch von der psychoanalytischen Schule ab

Mann könnte vereinfacht sagen: Freudianer deuten („erklären“) Trieb- und Wunsch-Abwehr-Konflikte: „Sie würden gerne Ihren Partner verlassen, aber haben Sorge, es könnte Ihnen schaden.“ Dies ist eine Konfliktdeutung, auch Inhaltsdeutung genannt. Auch kann man das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen deuten: „Sie haben vielleicht das Gefühl, ich bin genauso streng wie Ihr Vater.“ Dies nennt sich „Übertragungsdeutung“ (im Hier und Jetzt). Da es sich auf die Beziehung zwischen Analytiker und Patient bezieht, spricht man hier auch von „Binnenübertragungsdeutung„. Es ist auch möglich, den Widerstand des Patienten zu deuten: „Sie sagen jetzt vielleicht nichts, weil sie befürchten, dass es unsere Beziehung zerstören könnte, wenn Sie Ihre aggressiven Gedanken aussprechen“ (Widerstandsdeutung).

Als genetische Deutungen werden solche Deutungen bezeichnen, die den Zusammenhang zwischen Jetzt und Kindheit erklären. Beispiel: „Sie müssen vielleicht immer kämpfen, weil Sie schon bei Ihrer Mutter immer kämpfen mussten, um zu bekommen, was Sie brauchen.“

Genau wie Ich-Psychologen weisen „Freudianer“ z.B. auf die starken Gebote des Über-Ichs hin: „Sie befürchten, bestraft zu werden, wenn Sie Ihre Meinung sagen.“ Selbstpsychologen deuten vielleicht die Funktion, die ein anderer Mensch für den Patienten haben könnte: „Sie sehen in mir die Person, die Sie beruhigen kann, aber Sie sehen mich nicht als Ganzes.“

Deuten heißt, etwas emotional erfahrbar zu machen.

Kleinianer wollen die unbewussten Phantasien verdeutlichen und gehen auf die „inneren Objekte“ ein: „Vielleicht haben Sie die Phantasie, Sie würden Ihre Mutter töten, wenn Sie Schlechtes über sie denken.“ Analytiker, die besonders auf die Mentalisierungsfunktion des Patienten achten, erklären vielleicht verschiedene Motivationen und Absichten des Patienten und seiner Mitmenschen: „Vielleicht hatte Ihre Mutter Ihnen nichts Böses gewollt – vielleicht hatte sie Angst, Sie würden Schaden nehmen, wenn sie nicht aktiv werden würde.“

Weitere Deutungsbegriffe:

Objektale Deutungen: Objekte wie Tiere, Menschen oder Dinge werden als vom Patienten getrennt gedeutet. Beispiel: Ein Patient träumt von einem roten Laster. Dann kann man deuten: Der rote Laster soll die Schulden des Patienten darstellen.

Subjektale Deutungen: Bei einer subjektalen Deutung geht der Analytiker davon aus, dass das, wovon der Patient erzählt, ein Teil des Patienten ist. Der rote Laster könnte vielleicht der Patient selbst sein, der bereits zu viele Sorgen auf sich nehmen musste. Erzählt der Patient zum Beispiel von einer Kollegin, die nie genug bekommen kann, dann könnte der Analytiker zum Beispiel sagen: „Vielleicht können Sie selbst ja auch nie genug bekommen.“ Besonders Personen und Tiere in Träumen kann man subjektal deuten: „Da war dieser Hund mit diesem weit aufgerissenen Maul.“ Hier könnte der Analytiker sagen: „Vielleicht sind Sie ja der Hund, der ungeheuren Hunger hat.“

„Die Gruppe um Weiss und Sampson (Weiss 1992) geht von der Hypothese aus, dass das entscheidende Ziel des Psychotherapiepatienten darin besteht, seine ihm unbewussten pathogenen Überzeugungen durch den Analytiker falsifiziert zu bekommen“ (Mertens/Waldvogel: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Kohlhammer 2008: S. 138)

Phänomenologische Deutung: Sie bezieht sich auf den Patienten, „wie er ist“ und auf die Situation, in der sich der Patient im Leben gerade befindet. Beispiel: „Sie kaufen sich immer so große Autos, weil Sie vielleicht damit verstecken wollen, wie klein Sie sich fühlen.“

Gesättigte und ungesättigte Deutung: Gesättigte Deutungen erklären dem Patienten etwas vollständig: „Sie sind heute vielleicht so bockig, weil Sie sich fühlen, als würde ich Sie genauso in die Ecke drängen, wie die Mutter es immer tat.“ Ungesättigte Deutungen deuten nur etwas an und lassen Raum für weitere Entwicklungen in der Stunde: „Es ist, als seien Sie in eine Ecke gedrängt worden.“ Ungesättigte Deutungen können auch nur aus einem Wort oder kurzen Nachdenk-Fetzen bestehen: „… wieder in der Ecke …“

Binnenübertragungsdeutung und Außenübertragungsdeutung:
„Sie haben Sorge, ich könnte Sie genauso fallen lassen, wie Ihr Vater es tat.“ Die Beziehung zwischen Patient und Analytiker wird direkt besprochen.
„Sie sehen in Ihrem Chef immer wieder Ihren dominanten Vater und werden dann unterwürfig.“ Die Beziehung zwischen Patient und Analytiker kann sich in der Außenwelt im Zusammenspiel mit anderen widerspiegeln. Die Außenbeziehung muss natürlich nichts mit der Analytiker-Patient-Beziehung zu tun haben, sondern kann allein etwas über den Analysanden bzw. den Außenstehenden sagen.

Prozessdeutungen beziehen sich auf Prozesse, z.B. auf den analytischen Prozess im Laufe der Zeit: „Früher hatten Sie an dieser Stelle immer einen Fluchtreflex. Heute können Sie sich das in Ruhe anschauen.“

Aktuale Deutung (Hinz 2009): Lauscht er Analytiker seinem Patienten und beobachtet er ihn, fallen ihm bestimmte Möglichkeiten der Deutung ein. Die Deutung, die der Analytiker aus einer Reihe von möglichen Deutungen auswählt, ist die aktuale Deutung.

Tiefe Deutung: Bei einer „tiefen Deutung“ sagt der Analytiker dem Patienten etwas, das sich auf ein ganz ursprüngliches Problem in der Vergangenheit bezieht oder/und auf etwas tief Unbewusstes.

Der Psychoanalytiker James Strachey (1887-1967) schreibt:
„Er (der Ausdruck „tiefe Deutung“) beschreibt zweifellos die Deutung von Material, das entweder genetisch früh und historisch entfernt von der gegenwärtigen Erfahrung des Patienten liegt oder das sich unter einer schweren Last von Verdrängung befindet – Material jedenfalls, das beim normalen Stand der Dinge für das Ich des Patienten überaus unzugänglich und weit von ihm entfernt ist.“ (S. 508)
James Strachey (1935):
Die Grundlagen der therapeutischen Wirkung der Psychoanalyse
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1935, 21 (4): 486-516

Mutative Deutung (mutare = lat. wechseln, sich verwandeln, sich verändern): Eine Deutung, die zu einer spürbaren Veränderung beim Patienten – und manchmal auch beim Analytiker – führt. Beispiel: „Bei der ‚mutativen Deutung‘ vollzieht sich nach Strachey ein Austausch von Über-Ich-Inhalten, wobei Einstellungen des Analytikers, die dieser anlässlich bestimmter Deutungen vermittelt, als neue, milde Über-Ich-Anteile verinnerlicht werden. Dieser Austausch läuft darauf hinaus, dass sich der Patient partiell mit dem Psychoanalytiker identifiziert.“
Übertragungsdeutung und Realität, S. 295, Helmut Thomä, Horst Kächele: Psychoanalytische Therapie: Grundlagen, Band 1, Verlag Springer 2006

Die bekannteste aller Deutungen ist wahrscheinlich die Traumdeutung.

Bion: Erst fühlen, dann deuten

Der britische Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1979) hat Einleuchtendes zur Deutung gesagt (James Grotstein: A Beam of Intense Darkness, Karnac 2007). Durch seine Therapie mit Borderline-Patienten und Psychotikern hat er gelernt:

„I do not think such a patient will ever accept an interpretation, however correct, unless he feels that the analyst has passed through this emotional crisis as a part of the act of giving the interpretation.“ (In: Grotstein: A Beam of Intense Darkness, S. 91)
„Ich glaube nicht, dass so ein Patient jemals eine noch so korrekte Deutung akzeptieren wird, wenn er nicht spürt, dass der Analytiker zuvor selbst durch diese emotionale Krise gegangen ist. Dieses Mit-Erleben der Krise ist Teil des Deutungsvorgangs.

„… the interpretation is merely setting a formal seal on work that has already been done.“
„… die Deutung besiegelt nur die Arbeit, die vorher schon getan wurde.“
Wilfred Ruprecht Bion (Chris Mawson, Redakteur) 2021:
The Complete Works of W.R. Bion:
Taylor & Francis, Volume 11 – Seite 1959
Google Books

Der Psychoanalytiker Wilfred R. Bion (1897-1979) beschreibt die „Deutung“ als ein „Element“ der Psychoanalyse: „Da der Analytiker ständig dazu aufgerufen ist zu entscheiden, ob er mit einer Deutung intervenieren soll, sollte die Entscheidung mit ihren Komponenten von Einsamkeit und Introspektion als ein Element der Psychoanalyse angesehen werden …“
Bion: Elemente der Psychoanalyse, suhrkamp taschenbuch 1992: S. 46

Wenn man falsch liegt

Ähnlich wie eine Mutter nicht immer richtig errät, was mit ihrem Kind ist, so kann auch der Psychoanalytiker mit seiner Deutung falsch liegen. Der Patient fühlt sich dann missverstanden. Die Deutung hat dann vielleicht viel mit dem Psychoanalytiker selbst, aber wenig mit dem Patienten zu tun.

Manchmal ist der Psychoanalytiker plötzlich so in seiner eigenen Welt gefangen, dass er etwas „deutet“, was sich auf seinen eigenen Innenraum bezieht. Oft durchmischen sich jedoch auch das Unbewusste des Patienten und des Analytikers, sodass erst im Laufe der Verwicklung eine neue „Entwicklung“ zustande kommt und dann neues Deuten möglich wird.

Sobald ein Missverständnis deutlich wurde, ist die Versuchung groß, immer noch mehr zu sagen, sich wieder herauszureden, sich zu rechtfertigen. Doch meistens ist das der Situation nicht zuträglich. Besser, man lässt vielleicht nach einer kurzen Erklärung die „falsche“ Deutung sacken und schaut, was sich aus dem Missverständnis entwickelt.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Sigmund Freud (1916):
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Kapitel 6: Voraussetzungen und Technik der Deutung
Projekt Gutenberg

Hinz H (2009):
Optionale Deutung – Aktuale Deutung:
Bemerkungen zum ungeschriebenen Konzept der Deutungsoptionen von Wolfgang Loch.
Jahrbuch der Psychoanalyse 59, 69-93, fromman-holzboog

Timo Storck:
Deutung
Kohlhammer, 1. Auflage 2022, S. 72

Firmansyah, D., Mergel, K., Benecke, C. et al. (2021):
Deutungen: eine qualitative Studie unmittelbarer Patientenreaktionen.
Forum der Psychoanalyse 37, 323-336 (2021)

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 19.8.2016
Aktualisiert am 25.1.2024

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