„Es sind doch nur Gedanken.“ – „Nein!“

„Die Situation an sich ist so wie sie ist. Was sie so unerträglich macht, sind die Gedanken dazu. Unsere Bewertung entscheidet darüber, ob etwas gut ist oder schlecht“, hört man. Ich denke, dass es anders ist für Menschen, die frühe, schwere traumatische Erfahrungen gemacht haben – insbesondere, wenn der Körper mit einbezogen war. Da spürten sie genau: Zuerst ist da das Unerträgliche. Die Gedanken sind nur die Folge, um es zu begreifen. Sie hatten keinen anderen Menschen, der das Unerträgliche mit ihnen ertrug.

Donald Winnicott sagt in seinem Beitrag „The Psychology of Madness“ (1965):
„It must be conceded, however, that there are very roughly speaking two kinds of human being, those who do not carry around with them a significant experience of mental break-down in earliest infancy and those who do carry around with them such an experience and who must therefore flee from it, flirt with it, fear it, and to some extent be always preoccupied whith the threat of it. It could be said, and with truth, that this is not fair.“ (The Psychology of Madness (1965). In: Psychoanalytic Explorations, Routledge 2018: S. 122)

Frei übersetzt von Voos:
„Vereinfacht gesagt gibt es zwei Arten Mensch: Solche, die kein bedeutsames Erlebnis eines mentalen Zusammenbruchs in der frühesten Kindheit mit sich tragen und solche, die so ein Erlebnis mit sich tragen. Daher müssen sie davor fliehen, damit flirten, sie müssen es fürchten und zu einem gewissen Ausmaß werden sie ständig mit dessen Bedrohung beschäftigt sein. Man könnte fürwahr sagen, dass das nicht fair ist.“

Wer solch einen frühen Zusammenbruch erlebt hat, der kann sich nicht einfach nur sagen: „Es sind nur Gedanken.“ Denn es handelt sich um tiefste Empfindungen bzw. Zustände von Körper und Seele und um ein mentales Geschehen, das wir gerade erst erforschen. Aus der Not und aus verschiedensten Körperzuständen entstehen die vielfältigsten Gedanken. Es ist sehr wichtig, sie zu denken, denn sie sind im Notzustand ein wichtiger Organisator, der dabei hilft, dass nicht alles zusammenbricht.

Ein Baby, das Gewalt erfährt, erlebt vermutlich Todesangst. Es ist die Hölle für dieses Baby. Kein Bewerten. Kein Denken. Es fühlt ohne Worte: „Das hier ist die Hölle.“ Und diese innere Hölle bleibt und wird neu wieder geweckt durch die verschiedensten Körperempfindungen, Umstände und Phantasien. Die Gedanken sind meistens die Folge, nicht die Ursache des Geschehens. Sie können natürlich dann die Sache verschlimmern oder verbessern – oft aber haben sie gar keinen Einfluss auf diese ursprünglichen, meist schrecklichen Empfindungen und Zustände.

Jedes Mal, wenn ich lese oder höre, dass es nur darauf ankomme, wie wir die Dinge bewerten und wie wir darüber denken, fühle ich eine abgrundtiefe Schlucht zwischen dem Gesagten und dem, was ich täglich in meiner Praxis an Leid miterlebe. Wie es uns geht, ist nicht nur das Ergebnis dessen, wie wir über die Dinge denken. Es ist vor allem das Ergebnis dessen, was wir fühlen und erleben. Direkt und unmittelbar. Ganz ohne Bewertung.

Jean Améry: „Von dort drang kein Schrei nach draußen. Dort geschah es mir: die Tortur. … Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann. … Es wird schließlich die körperliche Überwältigung durch den anderen dann vollends ein existenzieller Vernichtungsvollzug, wenn keine Hilfe zu erwarten ist.“ Fritz J. Raddatz: Jean Améry: „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert.“
Welt Kultur, 31.10.2012

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Literatur:

Donald Winnicott:
The Psychology of Madness (1965)
In: Psychoanalytic Explorations
Routledge 2018

Johannes Picht:
Zu Winnicotts „Psychologie der Verrücktheit“
April 2018, Heft 4: S. 257, DOI 10.21706/ps-72-4-267
https://elibrary.klett-cotta.de/article/10.21706/ps-72-4-267

Die Kraft der Vorstellung
Wie imaginierte Ereignisse unsere Einstellung verändern
Max-Planck-Gesellschaft, 21.5.2019
https://www.mpg.de/13490554/0520-nepf-132884-stell-dir-vor-unsere-einstellungen-aendern-sich-allein-durch-die-kraft-der-vorstellung

Roland G. Benoit, Philipp C. Pualus, Daniel L. Schacter (2019)
Forming attitudes via neural activity supporting affective episodic simulations
nature communications 10, Article number: 2215 (2019)
https://doi.org/10.1038/s41467-019-09961-w, Open Access
https://www.nature.com/articles/s41467-019-09961-w

Schatten der Vergangenheit.
Trauma liebevoll heilen und innere Balance finden.

Dieser Beitrag entstand erstmals am 26.2.2019
Aktualisiert am 24.8.2023

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