
„Die Chefs erkennen die Bewerber am Stallgeruch“, heißt es in den höheren Etagen. Die Bewerber bräuchten nur den Raum zu betreten und die Chefs wüssten bereits, wie sie sie einordnen können. Manchmal sind dann selbst die motiviertesten Menschen chancenlos, wenn es ihnen am entsprechenden „Stallgeruch“ fehlt (siehe Studien von Professor Michael Harmann, TU Darmstadt). Man kann es sich nicht antrainieren. Doch was steckt dahinter?
Außerhalb unserer Kontrolle – Training nur schwer möglich
Es sind kleine Details, die wir nicht beeinflussen können. Viele intelligente Kinder kommen nicht in den Genuss von Bildung, weil ihr sozialer Stress zu hoch ist. Nicht selten werden sie dann fallengelassen: „Es hat ja eh keinen Zweck“, sagen Menschen, die die Lernwilligen eigentlich fördern könnten. Bei Menschen bildungsbenachteiligter Schichten ist der Stresspegel oft sehr hoch (McDonald et al. 2015), sodass auch die körpereigene Stressachse (HPA-Achse) oft stärker aktiviert ist als bei Menschen aus gebildeten Schichten. Wie wird dies sichtbar? Oder sogar vielleicht riechbar?
Nicht selten lässt sich der Bildungsstand bereits am Gesicht, an der Mimik, Gestik und Körperhaltung ablesen. Manchmal kann man sogar am Gesichtsausdruck von Babys Hinweise auf den Bildungsstand der Mutter finden. Spielt die Polyvagaltheorie hier eine Rolle?
Unwillkürliche Mimik
Unsere Mimik ist zu großen Teilen unwillkürlich. Selbst, wenn wir es nicht wollen, verzieht sich unser Gesicht für Bruchteile von Sekunden, wenn wir jemanden sehen, der uns unsympathisch ist. Blitzartig hat der andere unsere wahre Stimmung erfasst. Selbst wenn wir noch so sehr wollen: Wir können unser Gesicht meistens nicht so kontrollieren, dass der andere nichts bemerkt. Die Gesichtsmimik bis in seine Einzelheiten untersucht hat der bekannte Gesichtsforscher Paul Ekman.
Ist der Nervus vagus beteiligt?
Der amerikanische Wissenschaftler Stephen Porges forscht daran, wie das vegetative Nervensystem auch unser soziales Verhalten beeinflusst. Mimik, Stimme und Mittelohr werden vom Nervus vagus, also dem autonomen Nervensystem (parasympathischer Teil) beeinflusst.
Kinder, die ständig Scham, Angst, Wut oder Ohnmacht erleben, die in das betrunkene Gesicht eines Elternteils schauen, blicken anders als Kinder, denen es gut geht.
Kinder, die größtenteils von gebildeten Menschen umgeben sind und mit ihnen kommunzieren, übernehmen deren Mimik und Gestik, sodass sie als Erwachsene manchmal auch dann für Akademiker gehalten werden, obwohl sie nicht studiert haben.
Schauen gebildete Menschen nachdenklicher? Entspannter? Wie beanspruchen sie beim Lernen ihre Gesichtsmuskeln? Führt der differenzierte Wortschatz zu einer breit gefächerten Mimik? Sind schon die Blicke der gebildeten Mutter mit ihrem Säugling anders? Wie funktioniert das Mentalisieren in den verschiedenen sozialen Schichten? Lässt sich am Gesicht des Säuglings möglicherweise schon der Bildungsstand der Mutter erahnen?
So, wie man am Körper eines Menschen erkennt, ob er körperlich geschickt, trainiert und stark ist oder nicht, kann man am Gesicht erkennen, welche Lern-, Kommunikations-, Gefühls- und Lebenserfahrungen ein Mensch gemacht hat. Welche Ideen haben Sie dazu?
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- Polyvagaltheorie (PVT)
- HPA-Achse – die Achse des Stresses
- Paul Ekman – der Gesichtsforscher
- Warum ein Schichtwechsel von unten nach oben so schwierig ist
Links und Studien:
Kleisner K. et al. (2014)
Perceived Intelligence Is Associated with Measured Intelligence in Men but Not Women
Plos One Published: March 20, 2014
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0081237
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0081237
Ashley R. McDonald et al. (Pennsylvania State University, USA, 2015):
Socioeconomic status and inattention: The role of the HPA-axis
Psychoneuroendocrinology, November 2015Volume 61, Page 43
DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.psyneuen.2015.07.506
http://www.psyneuen-journal.com/article/S0306-4530(15)00740-4/abstract
Muscatell, Keely A. et al. (Department of Psychology, UCLA, Los Angeles, USA, 2012):
Social status modulates neural activity in the mentalizing network
NeuroImage, Volume 60, Issue 3, 15 April 2012, Pages 1771–1777
doi:10.1016/j.neuroimage.2012.01.080
http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1053811912000973
Paul Ekman, der Gesichtsforscher
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.11.2014
Aktualisiert am 17.1.2019
Dunja Voos meint
Liebe Melande,
eine interessante Idee. Die Mimik ist jedoch weltweit bei allen Menschen gleich, sodass ich denke, dass die Prinzipien dieselben geblieben sind. Man erkennt oft (aber natürlich bei weitem nicht immer), ob ein Mensch liebevoll angeblickt wurde, ob er gute Bildung und Bindung erhalten hat oder nicht – egal, aus welchem Land er stammt. Beide Welten – die „bildungsferne“ und die „bildungsnahe“ – zu erfahren macht es natürlich besonders interessant – welche Mimik „siegt“? (Gedankenspiel.)
Melande meint
Bei mir ist eine Frage entstanden:
Ich glaube, dass man in der heutigen Zeit, wo die Welt bunter und breiter gefächert ist (unterschiedliche Kulturen und vielseitigere Sozialisationen), die Menschen/ deren Gesichter und Mimik weniger eindeutig beurteilen kann. EIN Mensch kann m. E. einen Erfahrungshintergrund haben ……..(ich übernehme jetzt mal die obige Zweiteilung)…….in SOWOHL bildungsfernen ALS AUCH bildungsstarken Kontexten. Demnach könnte es heute öfter zu Falsch-Zuschreibungen der „Chefs in den höheren Etagen“ kommen?
Einen lieben Gruß von
Melande
Melande meint
Ich würde gern kurz etwas zu „Karl meint, vom 16.11.2014“ schreiben:
Jeder Mensch beurteilt, „sieht“ die Welt (Situationen, Menschen, mögliche Gefühle in den Gesichtern, usw.)
„durch seine EIGENE BRILLE“ (der Brille der jeweiligen Erfahrungen, Glaubenssätze, Überzeugungen, was er gelernt hat im Verlauf seiner persönlichen privaten und beruflichen Sozialisation, usw.),
aus seiner eigenen Perspektive heraus:
KONSTRUKTIVISMUS (siehe: Systemische Psychotherapie).
Erst das Zusammentragen MEHRERER PERSPEKTIVEN/Beurteilungen (aus mehreren Blickrichtungen mehrerer Menschen) ergibt ein objektives/objektiveres Bild.
Tschüß
Melande
karl meint
Unterschiedliche Differenzierung paßt in bezug auf Betrachtungsgrad. Betrachtungsgrad kann durch Bildung erhöht werden, aber etwas aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen ist imo eine zwischenmenschliche Lehre vor der Schule (es wird einem beigebracht durch Vorleben). Wie ein- oder vielseitig sind die um einen herum.
Bücher liest jeder anders, ein Buch gibt jedem etwas anderes, jeder zieht das Eigene für sich raus und der, der verschiedene Blickwinkel einnehmen gelernt hat, kann auch „Fremdes“ aus einem Buch ziehen.
Wehre mich dagegen, daß man Bildung wem ansieht. Mensch einer Kultur hat Probleme Gesichter anderer Kulturen zu „lesen“. Man sieht im anderen das, was man gelernt hat, in ihm zu lesen, weniger was wirklich vorhanden ist. Manche werden so, wie sie gelesen wurden, weil sie sich nicht anders sehen können.
Jay meint
In der Soziologie spricht man ja vom sogenannten ‚Habitus‘, welcher von Bourdieu sehr gut beschrieben wurde und eben jenen „Stallgeruch“ meint.
Der jeweilige Habitus eines Menschen ist tief eingeprägt, schwer veränderbar und selbst mit sehr viel Übung nicht zu überspielen.
Ich könnte mir vorstellen, dass die Mimik einer Person auch von eben diesem beeinflusst wird.
Mich würde interessieren inwieweit pathologisch auffällige, manipulative Persönlichkeiten in der Lage sind, ihren Habitus (wenn auch nur oberflächlich) an die gegebene Situation anzupassen.
Psychopathen sind ja mitunter wahre Meister im Täuschen und charismatischen Theaterspielen.
Es gibt bei Youtube ein Interview mit dem Serienmörder Ted Bundy, in dem man gut erkennen kann, wie Bundy die Mimik seines Gesprächspartners genau liest und dann seine Antwort entsprechend dem anpasst, was er bei dieser Person in Sachen Manipulation erreichen möchte.
Zumindest sind solche Leute wohl in der Lage die Mimik ihres Gegenübers genau zu lesen.