
Scham kommt in der Psychoanalyse immer wieder vor: Sie hindert Patienten besonders daran, über sexuelle Wünsche und Phantasien zu sprechen. Die sexuellen Wünsche, Phantasien und Erregungen rufen blitzschnell Scham hervor und viele Patienten wissen in dem Moment gar nicht, warum sie sich eigentlich in diesem Ausmaß schämen. Sie fühlen sich wie gelähmt. Die Psychoanalytikerin Ana-Maria Rizutto (Psychoanalytic Institute of New England, East) hat in einem Beitrag (1991) die Scham in der Psychoanalyse genauer untersucht.
„So wie du bist, ist es nicht gut“
Scham hat mit dem Über-Ich, mit Narzissmus, aber vor allen Dingen auch mit Erlebnissen in den frühen Objektbeziehungen zu tun. „Mama, ich wünsche mir zu Weihnachten ein Rennauto“ wird quittiert mit: „Hallo? Träum‘ weiter, was willst du mit ’nem Rennauto?“ Hunderte von Erlebnissen dieser Art lehren das Kind: „Ich muss mich für meine (kindlichen) Wünsche schämen. Ich wünsche mir mehr, als ich wert bin.“ Also hört es auf, Wünsche zu äußern oder sogar, sie wahrzunehmen.
Scham hängt eng mit der Sexualität zusammen
Freud selbst betrachte die „Scham“ nicht als ein eigenes Thema, schreibt Rizzuto. Er stellte die Scham in engen Zusammenhang mit dem Sexualinstinkt (1905), dem Zeigen und Sichtbarwerden der Geschlechtsorgane (Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Freud, 1910), mit unfreiwilligem Wasserlassen (Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, Freud, 1918) und bei Frauen mit dem „fehlenden Penis“ (Freud, 1933).
Wann entsteht Scham?
Freud und viele Psychoanalytiker sagen, dass Scham erst im Laufe der Entwicklung entsteht: Im Alter von drei bis vier Jahren, in der Latenzzeit (5-12 Jahre) und in der Pubertät. Wenn man jedoch Babys beobachtet, kann man bereits Zeichen der „Verlegenheit“ oder auch einer gewissen Form von „Scham“ entdecken, z.B. wenn das Baby ein Spielzeug erreichen will, es aber nicht schafft und ihm jemand dabei zuschaut.
Scham wird einerseits von der Gesellschaft eingepflanzt und geformt, andererseits scheint es auch – ähnlich wie Angst – ein universelles, angeborenes Gefühl zu sein, das sich mit dem Verlauf der Entwicklung verändern kann.
Scham ist ein äußerst „soziales Gefühl“. Bei der Scham sind IMMER andere beteiligt: entweder außenstehende Menschen oder innere Figuren („Wenn das mein Lehrer wüsste!“). Oder aber wir kämpfen gegen unser eigenes Über-Ich an. In jedem Fall kommt die Scham durch eine Kommunikation zustande – mit äußeren Menschen, inneren Objekten oder mit unserem eigenen Über-Ich.
Scham in der Selbstpsychologie
In der Selbstpsychologie nach Kohut (1971) ist Scham ein Zeichen dafür, dass es dem Betroffenen nur schwer gelingt, exhibitionistische Wünsche anzunehmen und damit umzugehen. Die narzisstische Entwicklung, also die Fähigkeit zur gesunden Eigenliebe, spielt hier eine besondere Rolle.
Andrew P. Morrison (1983) betont, dass Scham entsteht, wenn man ein Ziel nicht erreicht hat, wenn man Fehler gemacht hat oder sich defizitär fühlt. Auch Sandler et al. (1963) schreiben, dass Scham dann entsteht, wenn man sein Idealselbst nicht erreicht.
Die amerikanischen Vertreter der Strukturtheorie, Arlow und Brenner (1979), sehen Scham nicht als spezifischen Affekt an. Brenner (1979) ordnet die Scham den „depressiven Affekten“ zu und sieht die Scham als ein Sich-Unwohlfühlen, das mit der Idee verknüpft ist, dass etwas Schlechtes passiert ist.
Manchmal will man gerade das Schöne von sich verstecken.
Von Angesicht zu Angesicht
Der Psychoanalytiker Leon Wurmser (1981) beschreibt innere Konflikte, die zur Scham führen können. Besonders die Gesicht-zu-Gesicht-Kommunikation spielt bei Wurmser eine besondere Rolle. Das, was der Betroffene von sich zeigt oder zeigen will erschwert die Kommunikation. Wurmser hat das Konzept der Triebe erweitert und die Begriffe „Theatophilie“ und „Delophilie“ geprägt. Während „Theatophilie“ die Lust zum Beobachten beschreibt, heißt „Delophilie“ soviel wie „die Lust, sich selbst auszudrücken, darzustellen, zu beeindrucken und zu faszinieren“. Wurmser beschreibt „kommunikative, aggressive und sexuelle Triebe“. Damit Scham entstehen kann, muss sowohl ein „Selbst“ als auch eine Kommunikation mit anderen vorhanden sein.
Scham ist das Gegenstück zum Stolz
Wenn Scham entsteht, dann wünscht man sich, unsichtbar zu sein. Man möchte die Exposition vermeiden (Fenichel, 1945, Lewis 1971, Wurmser 1981). Nach Freud (1910) führen die Exposition der Geschlechtsorgane, der nackte Körper sowie die Gedanken und Gefühle hierzu zu schamhaften Gefühlen. Auch durch den Verlust der Kontrolle über die körperlichen Funktionen kommt es zu Scham (Freud 1918).
Ob sich Tiere und Babys auch schämen können, diese Frage wird immer wieder gestellt. Scham entsteht in Bezug auf andere, es ist ein „soziales Gefühl“. Wenn man sich vor sich selbst schämt, steht man mit sich selbst in Beziehung. Man schämt sich auch vor den Blicken der „inneren Objekte“. Wenn man Hunde beobachtet oder Babys, dann lassen sich manchmal Mimiken und Gesten beobachten, die stark an Scham erinnern. Babys, die eine neue Bewegung einüben wollen und es nicht hinbekommen, schreien vor Wut über sich selbst. In der gemütlichen Runde im Garten kann man aber manchmal auch beobachten, wie das Baby bei Nicht-Gelingen der angestrebten neuen Fähigkeit einen anderen anschaut und sich schämt. Es sieht tatsächlich manchmal so aus, als könnte schon den Kleinsten etwas peinlich sein.
Scham: Unbewusste Phantasien als Grundlage
Ana-Maria Rizzuto sagt, dass Scham aus unbewussten Phantasien heraus entsteht. Das Konzept der unbewussten Phantasie erlaube verschiedene Theorien und Bestandteile der Scham zu kombinieren: die Aspekte „Selbstgefühl“, „Beziehung zu anderen“, die Triebe, die Abwehr sowie die Konflikte zwischen Ich, Ich-Ideal und dem Super-Ego gehören dazu.
Der Kinderanalytiker Winnicott (1971) und Kohut (1971) geben dem „mütterlichen Auge“ eine besondere Bedeutung: Das Kind fühlt die Anwesenheit des mütterlichen Blickes. Ist ein „Glanz im Auge der Mutter“ erkennbar, so wird sich das Kind gut fühlen. Schaut die Mutter zweifelnd oder abwertend, wird das Kind sich schämen.
Signal-Scham und schmerzhafte Scham
Ana-Maria Rizzuto erwähnt in ihrem Beitrag die zwei Formen der Scham: Die Signal-Scham (Fenichel 1945), die wie die Angst dazu da ist, uns zu schützen und die „schmerzhafte (krankhafte) Scham“, die dann auftritt, wenn die „Signalscham“ nicht richtig funktioniert oder wenn die Person eigene Vorstellungen oder innere Bilder als nicht akzeptabel für sich selbst ansieht.
Ist es nicht erstaunlich, wie ähnlich die Worte „Charme“ und „Scham“ klingen? Der Charme, die Verlockung und das Intime hängen ganz eng zusammen.
Die krankhafte Scham ist immer auch eine sehr schmerzhafte Scham. Können sich Kinder narzisstisch nicht richtig entwickeln, dann kann pathologische Scham auftreten (Kohut, 1971). Michael Franz Basch (1976) sagt, dass schmerzhafte Scham besonders dann entsteht, wenn die Mutter-Kind-Kommunikation gestört ist. Auch Wurmser (1981) schreibt, dass schmerzhafte Scham entsteht, wenn das Kind bei der Mutter keine adäquate Antwort auf seine Bedürfnisse erhält.
Von Körper zu Körper
Entwicklungsforscher (Demos, 1986, Emde et al., 1976, Lichtenberg, 1983, Stern, 1985) betonen, wie wichtig die frühe emotionale Kommunikation mit der Mutter ist. Scham kann entstehen, wenn das Attunement oder die affektive körperliche Kommunikation gestört sind – schließlich ist die körperliche Kommunikation die früheste Kommunikationsform zwischen Mutter und Kind. Erhält das Kind keine komplementäre Reaktion, wird es irritiert sein, oder sich schämen: Will das Kind körperlichen Kontakt oder lächelt es die Mutter an und es kommt kein Lächeln zurück, ist es höchst irritiert.
Niedriges Selbstwertgefühl fördert Scham
Die pathologische Scham entsteht dann, wenn es eine Verbindung gibt zwischen einer aktuellen Vorstellung oder einem aktuellen Geschehen und einer vorbestehenden unbewussten Phantasie über den eigenen Wert, so Rizzuto. Menschen, die sich für fehlerhaft oder liebesunwürdig halten, fühlen häufiger schmerzhafte, krankhafte Scham als Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl.
„Dafür muss man sich doch nicht schämen!“
Meistens zeigt sich krankhafte Scham daran, dass Außenstehende die Schamgefühle nicht nachvollziehen können: Zwischen dem Ereignis und der erlebten Scham besteht für Außenstehende – und oft auch für den Betroffenen selbst – ein Ungleichgewicht. Der Körper, der gesehen, gerochen, gehört und gespürt wird, spielt dabei eine besondere Rolle. Menschen mit krankhafter Scham fühlen sich nicht richtig verstanden, nicht gesehen, nicht gehört und sie haben das Gefühl, ihr Körper sei abstoßend, würde schlecht riechen oder ekelig sein. Entsprechend der körperlichen Wahrnehmung fühlen sich die Betroffenen psychisch „dumm“, wie leer im Kopf oder voll von Hass.
Ana-Maria Rizzuto schreibt: „Attention must be paid to the verb ‚to be‘. All these metaphors beolong to the area of being a certain type of person in the presence of another.“
Freud sagt, dass besonders auch Phantasien und Tagträume Scham auslösen können (Freud, 1916). Kindliche Wünsche, z.B. ein Held zu sein, können schnell zum Fall führen, wenn das Kind belächelt wird. Ana-Maria Rizzuto ergänzt die Liste der Wünsche und sagt, dass besonders der Wunsch, emotionalen Kontakt herzustellen, eine komplementäre Antwort zu erhalten und sich dabei sicher zu fühlen, enorm wichtig ist. Wer bei diesen Wünschen Zurückweistung erlebt, der erlebt schmerzhafte Scham dafür, dass er überhaupt den Wunsch gehabt hatte.
Hauptquelle:
Ana-Maria Rizzuto (1991):
Shame in Psychoanalysis: The Function of Unconscious Fantasies
International Journal of Psycho-Analysis, 1991, 72: 297-312
www.pep-web.org/document.php?id=ijp.072.0297a
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Links:
Günter Seidler:
Der Blick des anderen
Eine Analyse der Scham
Klett-Cotta, 4. Auflage 2015
When positive affects are thwarted, shame happens
The Tomkins Institute
Lewisburgh, Pennsylvania, USA
Donald L. Nathanson:
The many faces of shame.
http://www.guilford.com/books/The-Many-Faces-of-Shame/Donald-Nathanson/9780898627053
enthält:
Demos, EV (1986): Discussion of Nathanson’s paper: A timetable of shame
Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht am 21.7.2016
Aktualisiert am 21.1.2018
Martha Grewes Lilienthal meint
Liebe Frau Voos. Ich bin Mutter einer 7jährigen Tochter. Seit Anbeginn haben wir eine innige und gute Beziehung zueinander. Ich hatte viel Zeit für unsere Familie. Hatte und habe Zeit mich mit allem auseinander zu setzen. Unsere Tochter schämt sich sehr. Sie ist anfällig regelrecht für Kritiken ihren Mitschüler. Hat da wie zu wenig Selbstwert und lässt sich aus der Ruhe bringen. Ist schnell traurig wenn Mitschüler sie ungerechtfertigt und falsch behandeln. Es scheint als würde sie alles Gesagte, Gezeigte ihrer Mitschüler mitnehmen.
Ich frage mich was ich tun kann UND was mein Anteil daran war und ist und wo ich in Zukunft anders mit ihr umgehen muss um sie zu stärken. Dabei sehe ich verschiedene Ansichtsweisen über die Entstehung vom Scham überhaupt.
In diesem Text wird auf ein gestörtes MutterKindVerhältnis hingewiesen. Auf Ablehnung oder nicht adäquate Reaktionen der Mutter auf ihr Kind. Frau Voos, Kraft meiner Wassersuppe finde ich nicht dass ich so zu meinem Kind war. Es bricht mir das Herz wenn ich nur daran denke dass es evtl unbewusst von mir oder meinem Partner doch so gewesen sein könnte. Was kann ich dennoch proaktiv tun, um unsere Beziehung da zu stärken (und diese schlimme Scham, die so oft auf ihr lastet) zu bessern?
Eben da ich so viel Zeit hatte mache ich mir nun den Vorwurf dass es vllt besser gewesen wäre dass ich sie alsbald weg von mir in Fremdbetreuung hätte geben sollen. Jetzt lastet es tatsächlich alles auf mir. Wenn es doch unbewusst meine Art war mit ihr zu agieren.
Was genau kann ich tun zu verstehen woher es kommt und ebenso wie ich ihr mit ihren 7Jahren helfen kann. Psychoanalyse für 7jährige?
Ich bin dankbar für jede Idee!!
Kati meint
Da muss ich Frau Voos Recht geben, natürlich dauert es etwas, aber wenn die Beziehung tiefer wird, und ich kann nur sagen das wird sie sogar sehr!!! Dann wird das Gespräch immer lockerer und man kann auch über diese schambehafteten Dinge sprechen. Und ich kann nur sagen, wie gut das tut, das endlich wo abladen zu können!
Meine Analyse ist bald zu Ende, und sie wird mir in der Tat sehr fehlen!
Dunja Voos meint
In der Psychoanalyse kann über die Scham gesprochen werden. Es dauert vielleicht lange, bis man beim Psychoanalytiker auch über sehr peinliche Dinge reden kann, aber in der Regel ergibt es sich im Laufe der Analyse. Viele haben auch das Gefühl, ihre peinlichen Dinge „beichten“ zu müssen, sodass sie auch darüber sprechen wollen.
Nessaia meint
Mich würde mal interessieren, wie in der Psychoanalyse in der Praxis mit Scham umgegangen wird. Man soll ja auf der Couch alles sagen. Zumindest verlangen das wohl einige Analytiker von einem. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Grundsatz in der Praxis wirklich umgesetzt wird. Manchmal denkt man ja Sachen, die sind so peinlich, daß man sich lieber die Zunge abbeißen würde, als zu sagen, was gerade in einem vor sich geht …..