
Wer sich schämt, kann sich kaum bewegen und wird zum Opfer der anderen. Wer sich schämt, fühlt sich schutzlos ausgeliefert. Er möchte im Boden versinken. Sich-Schämen führt dazu, dass man einen anderen nicht nach etwas fragen kann, dass man nicht auf den anderen zugehen kann, dass man nicht vor dem anderen singen, tanzen oder laufen kann. Scham und Bewegungsunfähigkeit hängen sehr eng zusammen.
Erstarren durch Schauen
Manchmal scheint man zu erstarren, weil man etwas sieht, was man besser nicht gesehen hätte. Man fühlt sich schuldig, schämt sich und bleibt „wie angewurzelt“ stehen. Schon in der Bibel gibt es dieses Bild: „Lots Frau aber schaute zurück; da erstarrte sie zu einer Salzsäule“ (Gen. 19, 26). Eine weitere Entwicklung scheint zunächst nicht möglich.
Bei der Scham ist es, als würde ein Riegel vorgeschoben: Sprechen, Atmen, Singen, Sich-Bewegen scheinen unmöglich zu sein. Das Nachdenken-Können (Mentalisieren) ist unterschiedlich stark eingeschränkt. Viele können in der Scham noch erstaunlich frei denken.
Erstarren durch Angeblicktwerden
Man kann auch erstarren, wenn man das Gefühl hat, die Augen eines anderen wären unentwegt auf einen selbst gerichtet. Oft waren es unsere ersten Bezugspersonen, meistens die Eltern, die hier zu sehr „starrten“. So angestarrt, kann man sich fühlen wie im Gefängnis. Dabei müssen die Blicke noch nicht mal mehr real sein – wir haben sie verinnerlicht. Allein die Vorstellung, dass uns jemand anstarrt, lässt uns selbst erstarren. Man hat keine Ruhe mehr, fühlt sich gequält. Man möchte endlich wieder frei sein und ärgert sich über die innere Gefangenschaft.
Scham hat immer mit Beziehung zu tun.
Angst vor dem Lösen der Fesseln
So sehr wir es uns wünschen: Manchmal haben wir jedoch auch Angst, uns aus der inneren Gefangenschaft zu befreien. Das Risiko, uns vor anderen zu „blamieren“ und zu schämen ist uns zu groß – also bleiben wir lieber unbeweglich. Wer sich nicht bewegt, kann nichts falsch machen, so der Gedanke.
Da hilft es nur, sich innerlich Stückchen für Stückchen aufzuschließen. Letzten Endes sind es nicht die Blicke von außen, die uns erstarren lassen, sondern unsere eigenen, inneren Blicke und Verbote. Wir sehnen uns nach der Freiheit von innerer Scham. Das zu erreichen kann zur Lebensaufgabe werden.
Lesetipps:
David Emerson, Elizabeth Hopper, Peter A. Levine:
Overcoming Trauma Through Yoga: Reclaiming Your Body
North Atlantic Books, 2012
Deutsche Fassung:
David Emerson & Elizabeth Hopper
Trauma-Yoga. Heilung durch sorgsame Körperarbeit
Therapiebegleitende Übungen für Traumatherapeuten, Yogalehrer und alle, die ihren Körper heilen wollen
Probst-Verlag, 2. Auflage 2014
Elizabeth Hopper über „Trauma Sensitive Yoga“ (TSY)
New England Psychologist, 1. Januar 2016
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Dieser Beitrag erschien erstmals 2016.
Aktualisiert am 5.5.2020
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