Menschen, die unter Tinnitus leiden, haben nicht selten das Gefühl, davon verrückt zu werden. Dass der eigene Körper einen mit Lärm quält, ist schwer auszuhalten. Ohren kann man nicht verschließen, das ist ja schon im echten Leben so. Aber bei äußerem Lärm kann man sich die Ohren zuhalten oder weglaufen. Doch vor dem inneren Lärm des Tinnitus gibt es kein Weglaufen. Man kann scheinbar keine Tür zumachen. Da nutzen auch die ganzen Erklärungen nichts, etwa, dass jeder Ohrgeräusche habe, aber nicht jeder darauf höre. Ich bin mir sicher, dass es meistens nicht so ist, sondern dass der Tinnitus tatsächlich ein „neuer Ton“ ist. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Da ist was
Man kann vielleicht diese kleine Körperhaltung ausprobieren, um ein Ohrgeräusch zu provozieren (klappt nur bei manchen): Man setzt sich gerade hin, Schultern entspannt und schiebt den Unterkiefer vor. Manche Menschen hören dann – kurzzeitig oder in der Bewegung dauerhaft – ein Ohrgeräusch, ähnlich wie wenn man in einer lauten Disco war oder eine Ohrfeige bekommen hat. Möglicherweise wird es dem Ohr bei dieser Bewegung „zu eng“, sodass Geräusche kommen. Andersherum kann man vielleicht feststellen, wie das Ohrgeräusch etwas nachlässt, wenn man den Kopf nach hinten kippt und ihn dann leicht zur Seite neigt, sodass der Musculus sterenocleidomastoideus (der Muskel, der vom Knochen hinter dem Ohr [Warzenfortsatz] zum Brustbein zieht) deutlich sichtbar wird.
Hin und zurück
Wenn es sozusagen „auf dem Hinweg“ funktioniert, funktioniert es oft auch „auf dem Rückweg“: Durch die Arbeit an den tiefen Muskeln, den kleinen Gelenken, an Nacken, Rücken und dem ganzen Körper kann sich Tinnitus wieder bessern. Manche sagen, dass sie mit Atemübungen des Yoga sehr gut zurecht kommen, auch wenn ein Tinnitus schon lange besteht. Die Übungen regen die Durchblutung an und bringen – bildlich gesprochen – mehr „frische Luft“ ins Blut und ins Ohr.
„Fazit: Wir sahen in der Studie, dass Bhramari Pranayama die mit dem Tinnitus verbundene Irritation, Depression und Ängstlichkeit deutlich reduzieren konnte. Die Übung linderte die Tinnitus-Symptome möglicherweise 1. durch den selbstgenerierten Ton, 2. durch die Verstärkung der parasympathischen Nervenaktivität und 3. durch die Wirkung als eine Entspannungmethode. Bhramari Pranayama könnte als leicht durchzuführende zusätzliche Therapie bei Tinnitus eingesetzt werden – sie wirkt wahrscheinlich durch ihre neuromodulatorischen (Nerven-beeinflussenden) Eigenschaften.“
Gut gezeigt wird die „Bienen-Atmung) (Bhramari Pranayama) in diesem Video von Carlo De Paoli, ab Minute 25.50:
Ruhig Blut
So wichtig es ist, „ruhig Blut“ bei Tinnitus zu behalten, so schwierig ist es auch. Was die Betroffenen in Panik versetzt, ist das Gefühl, dem Tinnitus vollkommen ausgeliefert zu sein, ja von ihm verfolgt zu werden. Besonders zu Anfang lässt sich kein „System“ erkennen. Es sieht so aus, als ob man überhaupt keine Kontrolle darüber hätte. Auch, wer schon jahrelang an einem Tinnitus leidet, hat immer wieder Phasen, in denen das Unkontrollierbare und Verfolgende des Tinnitus überwiegt.
Die Freiheit ist weg
Manche empfinden es so, als ob der Tinnitus ihnen ihre Freiheit, ihre Gesundheit, ihren funktionierenden Körper zerstört hätte. Manche personalisieren den Tinnitus, geben ihm einen Namen, fühlen sich von „dem Tinnitus“ bedroht. Andere stellen sich den Tinnitus als Teil ihres Körpers vor, als Ohr das sich gegen sie selbst richtet.
Hexenschuss
Man könnte sich den Tinnitus auch als eine Art „Hexenschuss im Ohr“ vorstellen. Ein Tinnitus kommt z.B. häufig nicht durch Geräusche außerhalb zustande, sondern durch extreme Verkrampfung, z.B. durch zu langes Sitzen am Rechner. Wenn die (inneren) Muskeln einmal verkrampft sind, ist es nicht mehr leicht, sie loszulassen – wohl jeder kennt das von seinem Rücken. Doch nichts im Körper ist „nicht beeinflussbar“. Jeder kann sich selbst auf seine „Tinnitus-Reise“ begeben und schauen, welchen „Sinn“ er macht, woher er kommt, wie er sich reduzieren lässt, was bei Kopfstand, Tauchen, Sport, Musikhören oder Meditation damit passiert.
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Literatur:
Sidheshwar Pandey et al. (2010):
Role of self-induced sound therapy: Bhramari Pranayama in Tinnitus
Audiological Medicine, Vol. 8, 2010, Issue 3: Pages 137-141
DOI (Digital Object Identifier): http://dx.doi.org/10.3109/1651386X.2010.489694
http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.3109/1651386X.2010.489694
Kevin Hogan:
Tinnitus: Turning the Volume Down
(Revised & Expanded) Perfect Paperback – March 15, 2010
https://www.amazon.com/Tinnitus-Turning-Down-Revised-Expanded/dp/1934266035
Joannis Stefanidis:
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