
Wer einen Tinnitus bekommt, ist stark verunsichert. „Wird das je wieder aufhören? Werde ich schwerhörig? Oder verrückt?“ Immer wieder lautet die Aufforderung: „Sofort zum Arzt!“ Doch wer einen Tinnitus bekommt, der hat viel um die Ohren – so viel, dass nicht genügend Zeit blieb, um auf sich selbst zu hören. Mit einem Tinnitus fühlt man sich dem eigenen Körper ausgeliefert. Man ist aufgeschreckt. Da fehlt die Kraft zum Warten in überfüllten Wartezimmern. Wer schon lange einen Tinnitus hat, fragt sich manchmal vorsichtig, ob er ihn nicht doch noch loswerden könnte. Immer wieder heißt es, „Tinnitus-Neulinge“ sollten sofort zum Arzt gehen, weil sie dort umgehend durchblutungsfördernde Maßnahmen, Kortison oder andere Medikamente erhielten. Doch die Wirksamkeitsstudien sind widersprüchlich (Salvi R. et al., 2009). Das Geschehen ist zu komplex für einfache Hilfe.
Die feinen Gesichts- und Ohrmuskeln, die Hirnnerven, das Hörzentrum in der Großhirnrinde (Abbildung auf www.orange-sinne.de), das Trommelfell, die Gehörknöchelchen, die Gehörgänge, die Belüftung der Nasen-Rachen-Gänge, die Durchblutung, Hormone und viele Dinge mehr spielen hier eine Rolle.
Joannis Stefanidis, Autor des Buches „Holy Freaks“ (siehe unten), wurde seinen Tinnitus in einem Yoga-Ashram los, in dem er zu intensiven Atemübungen (Pranayama) angeleitet wurde.
Wichtig sind Fragen wie: „Was tut mir jetzt gut? Suche ich Bemutterung? Finde ich kein Gehör? Fühle ich mich alleingelassen? Bin ich gerade überfordert und sollte ein paar Tage lang das Bett hüten?“
Studien zur subjektiven Bedeutung des Tinnitus sind rar
Leider gibt es nur wenig wissenschaftliche Untersuchungen dazu, welche Bedeutung der Tinnitus für die Betroffenen hat und wie sie ihn sich erklären.
Nicolas Dauman der Universtität de Poitiers, Frankreich, und Soly Erlandsson, der Unviersität West, Trollhättan, Schweden, haben 2012 eine Studie über die Psychodynamik einer Tinnitus-Patientin veröffentlicht: www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3531319/. In diesem Fallbeispiel kommt eine depressive Patientin zu Wort, die sich einsam fühlte, als der Tinnitus auftrat. Tinnitus sei immer individuell und subjektiv zu verstehen, so die Autoren. Er könnte als Projektion dienen und auf existenzielle Ängste oder unverarbeitete Traumata hinweisen. Nach der psychodynamischen Psychotherapie empfand die Patientin ihren Tinnitus als tolerabel.
Die sorgenvolle Zeit sinnvoll verbringen
Bei Tinnitus ist oft das offene Ohr eines Vertrauten hilfreich. Auch eine psychoanalytische Behandlung kann den Tinnitus lindern – manchmal auch dann, wenn er bereits länger besteht. Das jedenfalls ist die Erfahrung des Bremer Psychoanalytikers Dr. phil. Michael Tillmann. Sein Buch „Ich, das Geräusch“ (Psychosozial-Verlag, 2009) macht den Betroffenen Mut. Einen Gastbeitrag von Michael Tillmann in diesem Blog finden Sie hier.
Verwandte Links in diesem Blog:
- Schwindel und der Weg zu neuem Halt
- Tinnitus – der innere Quäler
- Paukenerguss: Man fühlt sich richtig krank
- Cogan-Syndrom
- Polyvagal-Theorie
- Die Angst des Psychoanalytikers vor Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit
Links:
Dauman, Nicolas and Erlandsson, Soly (2012):
Learning from tinnitus patients‘ narratives:
A case study in the psychodynamic approach
Int Journal of Qualitative Studies in Health and Well-being. 2012; 7
Published online 2012 Dec 27. doi: 10.3402/qhw.v7i0.19540
www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3531319/
Michael Tillmann, interviewt von Eiken Bruhn:
„Tinnitus ist nichts Fremdes“
taz.de, 6.8.2011
Tillmann, Michael:
Ich, das Geräusch
Ein Ratgeber für Tinnitus-Betroffene
Psychosozial-Verlag 2009
12,90 Euro
Jakob Labus et al. (2010):
Meta-analysis for the effect of medical therapy vs. Placebo on recovery of idiopathic sudden hearing loss.
The Laryngoscope, Volume 120, Issue 9, pages 1863–1871, September 2010
Article first published online: 24 AUG 2010
DOI: 10.1002/lary.21011
G. Hesse und A. Laubert (2010):
Zur Pharmakotherapie des akuten und chronischen Tinnitus.
Pharmacotherapy of acute and chronic hearing loss.
HNO 2010, Volume 58, Number 10, 990-998, DOI: 10.1007/s00106-010-2179-6
http://www.springerlink.com/content/m23j015k33441827/
Monika Richter:
Tinnitus, der stumme Schrei – von der Hölle ins Nirvana
no es nada Verlag, 23. Januar 2013, amazon
Duckert LG, Rees TS. (1984):
Placebo effect in tinnitus management.
Otolaryngol Head Neck Surg. 1984 Dec;92(6): 697-699
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/6440090
Meuer SP, Hiller W. (2015)
The impact of hyperacusis and hearing loss on tinnitus perception in German teachers.
Noise Health. 2015;17(77):182-190. doi:10.4103/1463-1741.160682
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4900479/
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.2.2012
Aktualisiert am 15.6.2021
Dunja Voos meint
Wie schön formuliert, liebe Maggie, vielen Dank!
Maggie meint
Für mich bedeutet Tinnitus eine Art „Wasserkessel des Innersten“. Ist der Siedepunkt erreicht gibt das Dampfventil diesem automatisch Raum. Ein unbewusstes Bedürfnis artikuliert sich mit Hilfe dieser Klangwelt und erinnert uns daran, die Zeit ist reif. Das Entwicklungspotential ist bereit.
Natürlich erleben wir dies als höchst unangenehm und übergriffig unsere Aufmerksamkeit auf diese Art und Weise einzufordern. Eine sehr ursprüngliche kreative Kraft bewegt unaufhaltsam den Motor der Veränderung, gelingt es diesem Volumen einen adäquaten Ausdruck zu verschaffen … wird es wieder befriedet und still.
BP meint
Naja der Rat zum Arzt zu gehen ist grundsätzlich nicht so verkehrt, wenn dieser dann jedenfalls seinen Job machen würde. Leider ist es in der Praxis mehr eine scheinbare „Last“ für den Arzt und die Antwort ist wie bei so vielem…Medikamente. Schnell und effektiv ruhig gestellt.
Die wenigsten werden darüber leider aufgeklärt das in >50% der Fälle Stress ODER andere evtl. psyischen Belastungen vorliegen. Gut ein HNO ist kein Psychologe…aber er war und ist ein Mensch und aus keinem anderem Grunde bin ich der Meinung, kann man auch mal einen Rat nahe legen.
Nicht falsch verstehen, ich prangere die Ärzte nicht primär an. Es ist scheinbar irgendetwas in diesem System kaputt das vielleicht auch diese so handeln wie sie handeln, aber dennoch es ist die eigene Entscheidung wo man hinkuckt und ob man wegkuckt.
Leider ist dieses ein Mitfaktor für soviel Unwissenheit über Tinnitus, und leider betrifft es weit aus mehr als man erst einmal annimmt.
Heimkind meint
Ich bin mit 8 Jahren durch ein Spezialkinderheim der DDR mit Makarenko-Methoden auf L inie gebracht worden, weil ich genau wie meine anderen 2 Brüder wohl meine Mutter überforderte. Weil ich aber dann in später Zeit partout zu meinem Vater in den Westen wollte, bekam ich noch als 16 jähriger 30 Monate Jungendhaft wegen Republikflucht obenauf.
Ich bin heute 52 Jahre ohne Job und der laute Tinitus bringt mich fast um den Verstand. Kann es sein, daß unverarbeitete Kindheitserlebnisse einen Tinitus auslösten, oder ging ich zu oft noch mit 30 in die Technodiskothek, weil ich glaubte, ich müßte etwas nachholen? Fragen über Fragen die mich nun auch noch depressiv machen. LG Forelle
Silke Wieckhorst meint
Ganz vielen Dank für Ihren Artikel, der mich dazu bewegt hat, den Ratgeber von Dr. Tillmann zu lesen. Ich muss sagen, endlich mal etwas Neues! Ich habe seit etlichen Jahren immer wieder unerträgliche Geräusche und mittlerweile alles Mögliche ausprobiert, aber nichts und niemand hat geholfen, es hat mich nur viel Geld gekostet. Der Ratgeber „Ich, das Geräusch“ zeigt einen anderen Weg als die Schulmedizin ihn geht und hat mir geraten, auf meinen Körper und mein Inneres zu hören und anzufangen, bei mir selbst etwas zu verändern. Ich hab das Buch jetzt schon mehrfach gelesen und finde, es zeigt, dass ich nicht aufhören darf herauszufinden, was die Geräusche mir sagen wollen, und dass es immer Hoffnung gibt.
Kristina Weiss meint
Echt hilfreicher Beitrag. Habe viele Informationen aus Ihren Text entnommen und werde sie wahrscheinlich auch anwenden. Vielen Dank.
Roland Kopp-Wichmann meint
Liebe Frau Dr. Voos,
kein Wunder, dass Psychologen, Psychotherapeuten und alle anderen Psychos in der Öffentlichkeit mitunter einen schlechten Ruf haben, wenn ich diese einseitige und großsprecherische Art von Herr Tillmann lese:
„Schuld am Tinnitus ist die Globalisierung“, „So gesehen, ist das Ohrensausen ein hysterisches Konversionssymptom, das als körperliche Funktionsstörung des Wahrnehmungssystems in symbolischer Weise einen unbewussten Konflikt ausdrückt.“ „Tinnitus kann vollständig geheilt werden, weil was kommt kann auch wieder gehen.“ (Den letzten Satz könnte man ja nun auch auf jede Krankheit anwenden.
Nichts gegen eine psychische Betrachtung von Stress, Überlastung, die Vernachlässigung von Grenzen bei der psychologischen Behandlung eines Tinnitus. Aber die guruhafte Gewissheit, mit der Herr Tillmann hier suggeriert, jeder Tinnitus sei heilbar, ist genauso fehl am Platz, wie der Ansatz der HNO-Ärzte, die gleich auf Durchblutungsbehandlung drängen.
Ich bin 63 Jahre alt, tiefenpsychologischer Psychotherapeut seit dreissig Jahren und seit mehreren Jahren von Tinnitus betroffen. Ich habe alles ausprobiert: HNO-Maßnahmen, orthopäidsche Interventionen, Osteopathie, Cranio, chinesische Medizin und fünf Jahre Psychoanalyse.
Mein Fazit: keiner weiß, wie Tinnitus entsteht – und wieder weggeht. Zufällig bin ich auf etwas gestoßen, was die meiste Linderung und Beschwerdefreiheit brachte: Orthomol audio (soll keine Schleichwerbung sein) aber dadurch ging mein Tinnitus, den ich über zehn Jahre habe, zu achtzig Prozent zurück.
Mit kollegialen Grüßen und Dank für Ihren ausgezeichneten Blog,
mit dem Sie psychoanalytisches Gedankengut einer breiten Öffentlichkeit verstehbar machen. Etwas Ähnliches versuche ich ja auch.