Im Glauben psychische Gesundheit finden? (Psychose-Serie 19)
Manche Menschen sagen, der Glaube habe sie gesund gemacht. Doch was meinen sie damit? Gerade junge Menschen mit schweren psychischen Störungen suchen oft in der Religion oder in Glaubensgemeinschaften ihr Heil. Doch die Beschäftigung mit Glaube und Religion führt bei manchen, besonders Frühtraumatisierten, dazu, dass sie sich psychisch noch schlechter fühlen. Der Grund: Sie haben oft kaum sichere Bindung erfahren. Sie verfügen kaum über ein gutes „inneres Objekt“, das sie in Ruhe lässt und ihnen wirklich gut tut. Viele schwer Leidende konnten in ihrem Leben bisher kein Bild von einer sicheren und dennoch freien Beziehung aufbauen. „Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“, heißt es in der katholischen Messe. Was ist aber mit den unzähligen Menschen, die diesen Satz als Heilungschance verstehen und dann enttäuscht feststellen, dass es ihnen trotz ihrer Glaubens-Bemühungen nicht besser geht?
Schwer psychisch kranke Menschen beschäftigen sich häufig intensiv mit religiösen Themen. In psychotischen Phasen halten viele Patienten sich für Gott oder sie fühlen sich von einem strafenden Gott verfolgt.
Aus psychoanalytischer Sicht kann „Gott“ einem inneren Objekt entsprechen – „Gott“ steht oft unbewusst für den inneren Vater oder die innere Mutter, aber auch für das Größen-Selbst. Menschen mit Psychosen werden oft erst dann gesund, wenn sie von ihrem „inneren Bösen“ nicht mehr überwältigt werden. Dieses Gefühl, dass da etwas inneres Böses ist, stammt oft daher, dass sie als Kleinkind noch in der vorsprachlichen Zeit schreckliche Qualen erlebt haben. Es handelt sich zum Einen also um eine Art „Erinnerung“, zum anderen erlauben sich viele nicht, ihre eigenen Aggressionen zu spüren, weil es dann sofort zu heftigen Schuldgefühlen kommt. Um mit diesem Dilemma zurechtzukommen, benötigen die Betroffenen zunächst mehr „Ich-Stärke„. Diese können sie jedoch oft nur durch den Aufbau einer guten Beziehung, z.B. mittels einer Analytischen Psychotherapie, gewinnen. Die Betroffenen brauchen ein gutes inneres Objekt, also eine gute nahe Beziehung, die es ihnen ermöglicht, sich frei und dennoch gut gebunden zu fühlen.
Erst die Erfahrung, dass wir ein relativ starkes Ich und einen „guten Anderen“ haben, macht es uns möglich, uns in guter Weise zu „unterwerfen“, uns unserem Schicksal, einem anderem Menschen oder einem „Gott“ hinzugeben. Während einer guten Psychoanalyse finden viele hin zu einer gesunden und befriedigenden Spiritualität. Zwar finden auch viele Frühtraumatisierte von Kindes Beinen an Halt in ihrem Glauben, doch die Zahl derer, die sich durch den Versuch, zu „glauben“, noch schlechter fühlen, ist wahrscheinlich groß.
Frühtraumatisierungen erschweren den Weg zu einer sicheren Beziehung
Bei Menschen mit Psychosen ist die sehr frühe Bindung zu Mutter und Vater häufig schwer gestört. Manche haben schon früh Körpergrenzen überschreitende Gewalt erfahren, z.B. auch durch frühe Krankenhausaufenthalte oder medizinische Behandlungen. In der Folge ist es paradoxerweise oft schwieriger, sich von der Mutter innerlich zu trennen. Diese ungute Verbundenheit kann zu Gefühlen des Verfolgtwerdens führen, aber auch zu einer unbändigen Wut und zu einem Hass auf die Welt, wenn es nicht gelingt, ein eigenes freies Leben zu führen.
Doch häufig darf die Wut nicht gezeigt werden, so meinen die Betroffenen – zu empfindlich könnte die (innere) Mutter darauf reagieren. Also neigen Menschen mit Psychosen häufig dazu, das Böse draußen zu sehen: Der andere Mensch guckt böse, es gibt böse Stimmen in einem oder der Teufel verleitet einen zum bösen Handeln. Durch diese Verlagerung des „Bösen“ nach außen steigt aber auf Dauer die innere Angst, das Böse könnte „zurückkommen“. Das äußere Böse ist andererseits auch eine Art „Erinnerung“, denn tatsächlich kam die mögliche Gewaltanwendung früher einmal von außen.
Viele Menschen mit Psychosen haben furchtbare Lebens- und Gefühlserfahrungen in den ersten Lebensjahren gemacht. Entsprechend angsterfüllt und verworren fällt der Glaube aus.
Spiritualität ist für viele ein Halt – oft aber ist es auch etwas Schwebendes, Unklares, nicht Fassbares. Es kann so etwas wie ein grenzenloses, „ozeanisches“ Gefühl sein. Vielen Menschen mit psychischen Störungen macht Spiritualität Angst, weil es ihnen selbst oft an dem Gefühl eines festen Kerns oder eines stabilen Selbst bzw. Ichs fehlt. Für sehr viele ist es da geradezu kontraproduktiv, sich mit einem Glauben oder einer Religion auseinanderzusetzen, denn dazu braucht es erst einmal einen inneren Halt.
Für psychisch Gesunde ist es oft sehr viel leichter als für Frühtraumatisierte, sich religiösen Fragen zuzuwenden, ohne von allzu großer Angst ergriffen zu werden.
Mithilfe von Psychotherapie den Boden unter den Füßen finden
Besonders in einer Analytischen Psychotherapie können viele Menschen erstmals besser begreifen, wie sie sich als Kind/als Baby fühlten, was Realität und Phantasie, was Innen und was Außen ist. Viele entwickeln erst langsam das Gespür für eine persönliche Grenze. Für manche ist der Psychoanalytiker der erste Mensch, der sie versteht und der ihnen dabei Sicherheit bietet. Viele erleben erstmals, dass die eigenen Gedanken sicher sind und der Analytiker sie nicht einfach so lesen kann. Sie erleben, dass ein anderer konstant da ist, dabei gleichzeitig Respekt hat, nicht zu nahe kommt und nicht eindringt.
So wird es möglich, sich eine Vorstellung von einem „guten Anderen“ zu machen, also eine „Repräsentanz“ von einer guten Beziehung in sich entstehen zu lassen. Diese Vorstellungen tun dann meistens gut. Erst durch das Gefühl eines „schützenden Mantels“, einer guten Grenze und einer inneren Stärke können wir auf gesunde Weise offener für die großen Fragen des Lebens werden.
Empfehlenswert ist hier das Buch „Psychoanalysis and Religion“ des australischen Theologen und Psychoanalytikers Neville Symington (1937-2019).
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Links:
Paula Thomson and S. Victoria Jaque (2014):
Unresolved mourning, supernatural beliefs and dissociation:
a mediation analysis.
Attachment & Human Development (2014),
Volume 16, Issue 5, pages 499-514
DOI:10.1080/14616734.2014.926945
https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/14616734.2014.926945
Neville Symington:
Psychoanalysis and Religion: Questioning the Claims of Psychoanalysis and Religion.
Continuum International Publishing, Juli 1996
amazon
Kirkpatrick, Lee A. and Schaver, Phillip R. (1990):
Attachment Theory and Religion:
Childhood Attachments, Religious Beliefs, and Conversion
Journal for the Scientific Study of Religion
Vol. 29, No. 3 (Sep., 1990), pp. 315-334
http://www.jstor.org/stable/1386461?seq=1#page_scan_tab_contents
Dunja Voos:
Ungeliebte glauben eher an Gott.
DocCheck, 28.11.2014
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 7.2.2015
Aktualisiert am 20.11.2023
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One thought on “Im Glauben psychische Gesundheit finden? (Psychose-Serie 19)”
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Dieser Text bringt mich sehr zum Nachdenken und ebenso die dahinterstehende Frage fehlender bzw. mißglückter frühkindlicher Bindungen und Aufbau einer guten Gottesbeziehung. Als ehemalige Katechetin für Vorschulkinder war ich immer bestrebt, Kinder zu einer guten Gottesbeziehung heranzuführen, d. h. vor allem auch den liebenden Gott kennen zu lernen. Aber ist dies eigentlich möglich, wenn das sogenannte Urvertrauen fehlt bzw. die Beziehungen zu den grundlegendsten Bezugspersonen nicht vorhanden ist?