Zehenlaufen bei Autismus – was können wir über den Körper lernen?

Autistische Kinder laufen nicht selten auf den Zehenballen. Es gibt zahlreiche Theorien dazu, warum das so ist. In einer beeindruckenden Dokumentation sah ich einmal eine Mutter, die das Zehenlaufen ihres Kindes durch eine Darmbehandlung mit Darmbakterien deutlich lindern konnte (siehe dazu z.B. auch die Studie von Elisa Santocchi et al., 2020). Auch die Autismus-Expertin Joya Van der Laan, Youtube, spricht davon, dass Verstopfung (Obstipation) oder anderes Unwohlsein im Bauch zu Ängsten, erhöhter Spannung und Zehenlaufen führen kann – was viele von uns kennen: Wenn wir unter Darmkrämpfen oder Anusschmerzen leiden, laufen wir unter Umständen auch für einige Momente mit hochgezogenen Fersen.

Autismus-Spektrum-Störungen seien häufig verbunden mit Störungen des Gleichgewichtssystems, so Stephen Michael Edelson vom Autism Research Institute in San Diego, Kalifornien. Er beschreibt in seinem Beitrag „Toe Walking and ASD“ (Zehenlaufen und Autismus-Spektrum-Störung), wie vier Kinder aufhörten, auf den Zehen zu laufen, nachdem man ihnen eine spezielle Brille mit Prismengläsern aufgesetzt hatte: „In each case, their toe walking was eliminated within seconds after the child began wearing prism lenses.“

Die Muskulatur im Ganzen anschauen

Interessant scheint der Zusammenhang zur Beckenmuskulatur zu sein. Wir selbst können auf der Toilette manchmal feststellen, wie wir die Fersen anheben, um die Stuhlentleerung zu steuern. Bei Gebärenden lässt sich beobachten, wie sie die Fersen heben, um den Schmerz zu reduzieren. Durch das Fersenheben spannen sich die Innenseiten (Adduktoren) der Oberschenkel an und der Weg für das Baby nach außen wird etwas verlangsamt, was Schmerzen reduziert. Auch beim Geschlechtsverkehr reagieren wir mit Spreizen der Zehen oder Strecken der Füße (Forum auf planetliebe.de).

Das Sich-auf-die-Zehenstellen kommt häufig auch mit Händeschütteln (Hand-Flapping) vor. Es ist, als gerate der ganze Vorderkörper in Anspannung. Oft ist es ein Zeichen für ein emotionales Hyper-Arousal, eine emotionale Über-Anspannung. Viele Kinder schnipsen auch mit den Fingern oder sie geben wiederholt Laute von sich wie z.B. Summen. Diese Bewegungen und Äußerungen werden auch zur Selbstberuhigung, zur Affekt-Abfuhr und Selbststimulation benutzt. Sie werden unter dem Namen „Stimming“ zusammengefasst, was „Selbststimulierendes Verhalten“ heißen soll.

Es wird auf allen möglichen Gebieten geforscht – den Gleichgewichtssinn, die mögliche Verkürzung der Sehnen, die Darm-Hirn-Achse und viele andere Faktoren schauen sich die Forschenden an.

Manchmal entsteht auch einfach ein Wohlgefühl beim Laufen auf den Zehen.

Auch diskutieren Fachleute, inwieweit primitive Reflexe bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen länger als bei neurotypischen (also „normalen“) Kindern erhalten bleiben (Alice Chinello et al., 2018), was mit einer erhöhten Körperspannung oder Schwierigkeiten bei der Koordination verbunden sein kann. Primitive Reflexe sind solche Reflexe, die wir als Babys noch haben, die sich aber im Laufe der Zeit auswachsen. Dazu gehört zum Beispiel der Tonische Labyrinthreflex (TLR) (siehe Studie von Jeff Sigafoos et al., 2021): Bei der Kopfbeugung nach vorne beugt sich der ganze Körper. Dies unterstützt die gebeugte Haltung des Kindes im Mutterleib. Wenn der Kopf des Kindes nach hinten bewegt wird, streckt sich der ganze Körper. Es kommt zu einer hohen Körperspannung.

Ein weiterer primitiver Reflex ist der Asymmetrische Tonische Nackenreflex (ATN, Youtube): Wird beim Baby der Kopf zur Seite gedreht, z.B. nach rechts, dann streckt sich das Bein derselben Seite (hier das rechte Bein). Das andere Bein wird angezogen. Bei normaler Entwicklung verliert sich der Asymmetrische Tonische Nackenreflex nach etwa sechs Monaten. Bei vermutlich autistischen Kindern scheint auch dieser Reflex länger bestehen zu bleiben als bei nicht-autistischen Kindern (Philip Teitelbaum et al., 2002, PDF).

Über Autismus-Spektrum-Störungen wird immer wieder heftig diskutiert. Die neurologischen Entwicklungsverzögerungen oder Störungen weisen auf den neurologischen Anteil bei den Autismus-Spektrum-Störungen hin.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Literatur:

Elisa Santocchi et al. (2020):
Effects of Probiotic Supplementation on Gastrointestinal, Sensory and Core Symptoms in Autism Spectrum Disorders: A Randomized Controlled Trial
Front. Psychiatry, 25 September 2020
https://doi.org/10.3389/fpsyt.2020.550593
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2020.550593/full

Tami Pollak:
Treating Children with Autistic Spectrum Disorder
A psychoanalytic and developmental approach

Routledge, 2018

Naomi Darom (5.12.2014):
Finding Small, Meaningful Victories in Autism Education
https://www.haaretz.com/2014-12-05/ty-article/.premium/meaningful-victories-in-autism-education/0000017f-dc54-d3a5-af7f-fefe53f60000

Schreibe einen Kommentar