Sich einfühlen und doch nicht einfühlen können: Krohns Paradox bei der Borderline-Störung

Wenn ich selbst gerade starke Schmerzen habe, sind mir die Schmerzen des anderen gerade ziemlich egal. Solange mein Leid nicht ausreichend gehalten wurde, kann ich nur wenig empathisch sein. Ich habe das Bild von der Welt, dass niemand anders so sehr leidet wie ich. Die Empathie kann jedoch wachsen, wenn psychisch Leidende endlich die Anerkennung und das Gehalten- und Verstandenwerden finden, das sie immer gesucht haben. Sobald das eigene Leid gehalten wurde, wird man fähig, es in sich selbst zu halten. Damit wächst auch die Fähigkeit, ein ähnliches Leiden bei anderen zu erkennen und mit ihnen mitzufühlen.

Menschen mit schwerem psychischen Leid gelten manchmal als „unempathisch“. Dass sie prinzipiell jedoch empathisch sein können, zeigt sich in ihrer Fähigkeit, den anderen bis ins Mark zu verletzen, wenn sie selbst gerade wieder sehr stark leiden. Sie spüren, wo der wunde Punkt des anderen sitzt. Sie erhoffen sich dadurch oft ein Gefühl von Gemeinsamkeit, auch, wenn die Gemeinsamkeit im Leiden besteht.

Gespür für die verletzlichen Stellen des anderen

Die Betroffenen haben auf eine bestimmte Art ein unglaubliches Gespür für ihre Mitmenschen. Sie können oft sehr gut erfassen, was anderen wichtig ist und wo andere verletzlich sind. Daher „gelingt“ es ihnen auch, andere blitzschnell zutiefst zu verletzen. Andererseits lassen sie in ihrer Wahrnehmung Lücken und sie tendieren dazu, die Absichten des anderen überzuinterpretieren. Durch die erlebten Traumata missinterpretieren die Betroffenen die Absichten, Gefühle, Gedanken oder Wünsche anderer Menschen. Sie sind sich „ganz sicher“, dass der andere gerade dieses oder jenes denkt oder beabsichtigt. Sie sind sich dann häufig auch ganz sicher, dass der andere ihnen gerade schaden will.

Fehlinterpretation

Menschen mit schweren psychischem Leid, z.B. mit einer Borderline-Störung, urteilen oft automatisch und blitzschnell. Sie haben das Gefühl, den anderen sofort und todsicher erfasst zu haben. Doch bei diesen automatischen Reaktionen und Reduktionen kommt es zu Fehleinschätzungen. Es gelingt den Betroffenen aufgrund ihrer engen Erfahrungswelt oft nicht, ein differenzierteres Bild vom anderen zu erhalten.

Auch kommen die Betroffenen oft nicht mit Unsicherheiten zurecht, sodass sie den anderen lieber sofort in eine Schublade stecken als zu sagen: „Ich weiß noch nicht so genau, wie ich den anderen jetzt einschätzen soll“. Für viele war es einst überlebenswichtig, die eigenen Eltern rasch einschätzen zu können, um sich vor ihren Angriffen zu schützen. Das aktuelle Problem liegt dann oft darin, dass die Betroffenen auch im Hier und Jetzt die Mitmenschen so einschätzen, als wären sie die Eltern.

Der Widerspruch zwischen dem treffsicheren Erfassen der anderen Person einerseits und der Missachtung der Gefühle sowie der Missinterpretationen andererseits wird als „Krohn’s Paradox“ bezeichnet.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Literatur:

Krohn, Alan (1974):
Borderline „empathy“ and differentiation of object representations:
A contribution to the psychology of object relations.
International Journal of Psychoanalytic Psychotherapy 1974, 3: 142-165
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/4435991

Milton, Damian:
The double empathy problem.
National Autistic Society, https://network.autism.org.uk/knowledge/insight-opinion/double-empathy-problem

„According to the theory of the ‘double empathy problem’, these issues are not due to autistic cognition alone, but a breakdown in reciprocity and mutual understanding that can happen between people with very differing ways of experiencing the world.“

Dieser Beitrag erschien erstmals am 28.8.2013
Aktualisiert am 19.1.2022