
„Mentalisieren“ heißt, über uns und über andere nachzudenken. Wir können erahnen, dass ein Kind, das ein Eis sieht, das Eis haben möchte. Wir wissen, dass wir wütend werden, wenn uns jemand nicht beachtet. Was wir und andere glauben, denken, fühlen und vorhaben, das ist uns oft klar. Wir erkennen die „mentalen Zustände“ (mental states) des anderen. Aber: Oftmals stimmt es nicht, was wir uns vom anderen denken – obwohl wir uns sicher sind, dass der andere dieses oder jenes denkt, liegen wir falsch.
Ähnlich wie bei der Übertragung verallgemeinern wir unsere eigenen Lebens-Erfahrungen manchmal zu sehr. Wer Eltern hatte, die schnell schlugen, wird auch von anderen rasch einen Angriff erwarten.
Wer schwer frühtraumatisiert ist, neigt sehr viel eher zum Hypermentalsieren als Menschen, die bei überwiegend liebevollen Eltern groß geworden sind. Die „Gesünderen“ fühlen sich sicherer und können sich eher vom anderen und von seiner Realität „überraschen“ lassen. „Gesündere“ halten eher aus, wenn sie nicht so genau wissen, was gerade im anderen vorgeht. Sie können dadurch anderen offener begegnen.
Wenn wir zu viel denken, kann die Rückkehr zum Fühlen eine große Erleichterung sein. Schön ist hier ein Buch von Safi Nidiaye: Herz öffnen statt Kopf zerbrechen.
Wer hingegen früh traumatisiert wurde, ist fast immer auf der Suche nach Sicherheit. Die Betroffenen gehen dasvon aus, dass das, was sie beim anderen sehen oder hören, wahrscheinlich genauso zu interpretieren ist wie das, was sie bei den Eltern erlebten. Damit tun sie anderen Menschen oft unrecht – doch die Crux ist, dass sich die Betroffenen „ganz sicher“ sind, dass sie recht haben. Ein erster Schritt zu einem gesünderen Mentalsieren ist es, die eigene Sicherheit in Frage zu stellen.
Ist es beim anderen wirklich gerade so, wie ich es von ihm denke? Mit dieser Frage im Hinterkopf können ganz neue, viel befriedigendere Beziehungen entstehen.
Frühtraumatisierte neigen dazu, dem anderen Absichten zuzuschreiben, die er gar nicht hat (Über-Attributierung). Sie kreisen in Gedanken und „denken nach“, ohne dass der Bezug zum Hier und Jetzt und zu den wahren Gefühlen und Absichten des anderen hergestellt ist.
Hypermentalisieren ähnelt dem Hyperventilieren: viel Luft um nichts
Bei der Hyperventilation atmet man „zu viel“, aber uneffektiv. Beim „Hypermentalisieren“ denkt man bis zum Umfallen nach, tut so, „als ob“ alles klar wäre, kommt aber mit den eigenen wirklichen Gefühlen oder mit der Realität des anderen nicht in Kontakt.
Pseudomentalisierung: Wenn Menschen in der Psychotherapie oder Psychoanalyse „hypermentalisieren“, erweckt es manchmal den Eindruck, als würden sie stark nachdenken und viel verstehen. Manchmal ist es da für den Therapeuten nicht leicht zu erfassen, dass der Patient gerade „im Leerlauf mentalisiert“, also ohne Bezug zu den echten Gefühlen und Absichten nachdenkt.
„Das Echte“ wird beim Hypermentalisieren oft nicht erkannt – vor allem traumatisierte Patienten (z.B. Borderline-Patienten) überinterpretieren die Handlungen des anderen oft. Sie unterstellen ihm Dinge, die andere Beobachter nicht aus den Handlungen oder dem Gesagten schließen würden.
Es gibt zwei Arten des Mentalisierens (nach Lieberman 2006):
Explizit-kontrolliertes Mentalisieren: Wir denken bewusst über den anderen oder über uns selbst nach. Wir beobachten den anderen und ziehen daraus unsere Schlüsse.
Implizit-automatisches Mentalisieren: Wir haben blitzschnell eine Theorie darüber, was im anderen vorgeht oder wie wir selbst sind. Hier haben wir keinen Abstand. Unsere Annahmen sind sofort da – wir stellen sie nicht infrage.
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Links:
Peter Fonagy and Anthony Bateman:
Introduction to Mentalisation
http://www.ucl.ac.uk/psychoanalysis/unit-staff/mbt_training_theory.pdf
Matthew D. Lieberman:
Social Cognitive Neuroscience: A Review of Core Processes
Annual Review of Psychology, Vol. 58: 259-289 (Volume publication date January 2007)
First published online as a Review in Advance on September 26, 2006
DOI: 10.1146/annurev.psych.58.110405.085654
(Matthew D. Lieberman: Department of Psychology, University of California, Los Angeles, USA)
http://www.annualreviews.org/doi/abs/10.1146/annurev.psych.58.110405.085654?journalCode=psych
Sandor Ferenczi
Missbrauch der Assoziationsfreiheit
Schriften zur Psychoanalyse (1908-1933)
Herausgeber: Peter Kietzmann
http://www.textlog.de/8915.html
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 12.8.2013
Aktualisiert am 7.10.2019
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