
„Wenn du dem Kind dieses Medikament gibst, dann gehe ich zum Gericht und lasse dir das Sorgerecht entziehen“ – vielleicht kennt der/die ein oder andere Alleinerziehende Sätze wie diese. Bei getrennten Elternpaaren kann emotionale Erpressung leicht vorkommen. Die sogenannte „emotionale Erpressung“ macht dem einen (dem Bedrohten) Angst und den anderen (den Täter) macht sie zum „Bösen“. Doch so leicht, wie es auf den ersten Blick aussieht, ist es oft nicht. Derjenige, der droht, hat oft ebenso große Angst wie derjenige, der bedroht wird. Wichtig ist es, zu verstehen, worum es wirklich geht.
Jede Erklärung führt in ein tieferes Loch
Emotionale Erpressung zeichnet sich oft dadurch aus, dass der oder die Erpresste glaubt, sie könnte das Loch, was sich da auftut, stopfen. „Wenn ich mir nur richtig Mühe gebe, wenn ich jetzt auch noch diesen Punkt erkläre, wenn ich mich hier wirklich ein letztes Mal kompromisshaft einlasse, dann ist alles gut.“ Ein Nachgeben folgt auf das andere. Doch bald schon merkt der oder die Erpresste: Mit jeder Rechtfertigung, mit jeder Erklärung und jedem Entgegenkommen öffnet sich nur ein weiteres Tor in noch größere Not.
Die Lösung liegt oft darin, einmal nicht mehr zu handeln, nicht zu reagieren. Doch das macht den Betroffenen zunächst oft so große Angst, dass sie das kaum wagen.
Opfer und Täter haben als Kinder oft Gewalt erlebt
Die amerikanische Psychologin Anne Bogat und ihre Kollegen von der Universität Michigan forschen zum Thema „Gewalt in der Partnerschaft“ (Intimate Partner Violence, IPV). Dabei ist mit „Gewalt“ auch die psychische Gewalt gemeint, also z.B. emotionale Erpressung und Drohung. Die Forscher haben herausgefunden, dass sowohl der Erpresser als auch die Erpresste häufig Gewalt in der Kindheit erlebt haben. Nicht jede Frau/nicht jeder Mann neigt dazu, eine Beziehung zu suchen, in der sie/er erpresst wird. Häufig sind es die „lieben“ Menschen, die „artig“ sein mussten und sich anpassten, die später erpresst werden oder sich erpressen lassen. Bereits als Kinder wurden sie selbst emotional erpresst. Derjenige, der den Druck ausübt, wurde selbst als Kind oft unter Druck gesetzt – nicht selten erlitten die Betroffenen massive Gewalt durch Vater oder Mutter. Sie schworen sich: Nie wieder will ich in diese hilflose Position geraten.
Doch wenn das Kind bei der Mutter/beim Vater ist, scheint man selbst in eine hilflose Position zu geraten. Diese Hilflosigkeit fühlt sich scheußlich an.
Was kann man tun?
Lösungen sind oft nur sehr schwer zu finden, weil die betroffenen Frauen – oder auch Männer – meistens große Angst davor haben, ihre Kinder in irgendeiner Weise zu verlieren. Vielleicht jeder vordergründige Kampf um die Kinder ist auch ein Kampf um die verlorene Liebe. Meistens waren Mutter und Vater einmal ein Liebespaar. Und nun hat der eine den anderen verlassen. Die Kränkung will verdaut werden. Beide Eltern fühlen sich „zu kurz gekommen“, beide erleben vielleicht eine Sehnsucht nach Liebe, aber auch Wut und Rachegefühle. Manche Paare gehen gegenseitig auf Zerstörungskurs. Nicht selten entwickelt einer – oder entwickeln beide – eine ungeheure Kreativität, um dem anderen das Leben schwer zu machen. Beide waren auf ein Gefühl der inneren Erlösung.
Das Gefühl, dass wirklich etwas Schreckliches passiert, ist auf Seiten der Bedrohten so groß, dass sie soweit wie möglich auf die Drohungen und Forderungen des (Ex-)Partners eingehen. Sie machen sich dabei oft nicht klar, dass das, was der Partner fordert oder womit er droht, unrealistisch ist. In unserem Beispiel: Es ist ja nicht so einfach, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen. Und doch scheint es ein Kinderspiel zu sein, wenn man mitten im Sorgerechtsstreit steckt. Die Angst, die Kinder zu verlieren, ist riesig. Die Frau oder der Mann, die/der zur schnellen Reaktion neigt und den Partner möglichst schnell „befriedigen“ will, lässt sich innerlich kaum Raum, um einmal die Realität zu überprüfen.
Emotionale Erpressung kommt überall vor, nicht nur in Partnerschaften. Oft findet sie schon in der Erziehung zwischen Mutter und Kind statt. Ein Beispiel von der Spielwiese: Ein kleiner Junge tritt ein anderes Kind, das sofort anfängt zu weinen. Die Mutter fragt: „Was hast du getan?“ – Junge: „Hab’s vergessen.“ – „Du sagst mir sofort, was du getan hast, sonst gehen wir rein!“ – Junge: „Ich habe getreten.“ – „So? Fernsehen fällt heute für Dich flach!“
Die Lust am Opfersein
Manchmal macht sich dann auch so eine Art „Masochistischer Triumph“ breit, nach dem Motto: Wenn er mich schon psychologisch ausziehen will, dann will ich wenigstens komplett nackt sein. Das „Opfer-Sein“ wird dann zu einer Art „Täter-Sein“ in der Art: „Mach doch! Dann sehen die anderen wenigstens, wie böse du bist!“
Die verstrickten Wege sind oft ähnlich und das Ergebnis ist oft dasselbe: Täter und Opfer fühlen sich irgendwie im Kampf verbunden. Loszulassen wirkt da paradoxerweise manchmal sehr schwer. Aber auch, wenn ein Partner beschlossen hat, aus der Verstrickung auszubrechen, kann es länger dauern, bis nicht immer wieder solch scheinbar aussichtslose Situationen entstehen.
Zum Streit gehören nicht immer Zwei. Manchmal gibt es einfach einen Angreifer, der einem keine Ruhe lässt. Die Kunst besteht dann darin, das Karussell nicht länger am Laufen zu halten und sich nicht immer wieder anzupassen an die echten oder phantasierten Wünsche des anderen.
Was kann man tun?
Oft hilft nur Eines: Abstand, Abstand, immer wieder Abstand. Es ist wichtig, sich Raum zu schaffen. Wenn schon wieder eine bedrohliche Mail ankommt, juckt es vielleicht in den Fingern, doch es ist eine gute und schwierige Übung, nicht direkt zu antworten. Meistens entstehen große Ängste: „Was passiert, wenn ich jetzt nicht sofort reagiere?“, fragt man sich. Wenn es gelingt, die großen Ängste zu überwinden, erst einmal ruhig zu bleiben und trotz ein oder zwei schlafloser Nächte nicht zu reagieren, kann dies zu einer neuen Erfahrung werden: Es passiert oft viel weniger, als man denkt.
Man kann prüfen, ob die Drohung realistisch ist und wenn ja, ob sie sofort umgesetzt werden kann. Rechtstreitereien dauern oft jahrelang und haben oft kein Ergebnis, außer, dass die Kinder groß geworden sind.
Sogenannte „emotionale Erpressung“ geht oft mit viel Aufregung auf beiden Seiten einher, aber letzten Endes tritt das Befürchtete oft nicht ein. Sich einen inneren Raum zu schaffen kostet Kraft, lohnt sich aber. Nicht sofort reagieren, auch wenn der Drang dazu noch so groß ist, ist eine große Kunst. Oft hat man das Gefühl, man könnte platzen, wenn man nicht sofort die Freundinnen, das eigene Kind oder sonst wen mit den neuesten aufregenden Nachrichten belagert. Man hat das Gefühl, zu platzen, wenn man das Erlebte nicht sofort irgendwo „rauslassen“ oder unterbringen kann.
Doch das Stillwerden ist eine enorm gute Medizin. Wenn Sie es wagen, sich ruhig hinzusetzen und die ersten aufgeregten Momente verstreichen lassen, werden Sie vielleicht feststellen, wie es wenigstens ein Stückchen ruhiger wird in Ihnen. Sie werden nicht platzen vor Wut und auch nicht sterben. Die aufgeregte Welle in Ihnen braucht die Chance, zur Ruhe zu kommen. Vielleicht sind Sie schon so lange nicht mehr zur Ruhe gekommen, dass Sie sich gar nicht vorstellen können, dass es funktionieren könnte. Aber Sie können das üben und viellleicht sehr überrascht sein von der Wirksamkeit des Nicht-(Sofort-)Reagierens.
Es wird nicht gut
Besonders gefangen sind viele Betroffene in dem Gedanken: „Wenn ich mich nur genug anstrenge, wird es gut.“ Es ist sehr schwer, einzusehen, dass das nicht stimmt. Man wird den anderen, der da erpresst, wahrscheinlich nie zufriedenstellen können. Die Hoffnung auf ein „Wiedergutwerden“ zu begraben, ist für viele wohl das Schwierigste, aber auch ein großer Schritt in Richtung Freiheit. Dabei wird dem Betroffenen oft die große Trauer darüber bewusst, keine „heile“ Familie zu sein. So kann sich jedoch die innere Haltung ändern. Man springt dann nicht mehr sofort auf jede Drohung an.
Raum schaffen, Abstand schaffen, Ruhe schaffen – innerlich wie äußerlich – ist oft die einzige Möglichkeit, den quälenden, verwirrenden, verrückten, erschreckenden, einschüchternden Forderungen des anderen auszuweichen. Die Zeit bringt es dann meistens mit sich, dass das, was früher einmal erschreckend und auswegslos erschien, nicht länger Grund zur Sorge oder Verzweiflung ist.
Manchmal schafft man diesen langen Weg nur mit dem Schutz und der Hilfe von außen. Eine Psychotherapie kann dabei helfen, eigene Scham-, Wut-, Hass-, Trauer-, Liebes- und Schuldgefühle zu verstehen. Eine gute Psychotherapie kann dabei helfen, das „Nicht-Reagieren“ zu üben und entlastet die Freundschaften. Zu einem Streit gehören nicht immer Zwei. Manchmal gibt es auch einen Angreifer, der – bildlich gesprochen – einfach wild um sich schießt. Doch es wird zu einer Angelegenheit von Zweien, wenn man durch seine Reaktion das Rad am Laufen hält.
Fragen Sie sich immer: Auf welcher Seite sitzt die größere Angst? Manchmal möchte man dem anderen nicht entgegenkommen, weil man denkt: „Mit mir nicht!“ Man möchte sein Selbstwertgefühl erhalten. Doch Ihr Selbstwert bleibt so oder so bestehen. Sie sind wertvoll. Wenn SIe fragen, auf welcher Seite gerade die größte Angst ist, stellen Sie vielleicht fest, dass derjenige, der so laut schreit und droht die Angst hat. Manchmal ist es dann leichter, etwas nachzugeben. Wenn der andere das Kind einen Tag länger haben will – warum nicht?
Wenn wir aufhören, auf unseren „Rechten“ zu bestehen, dann ist uns selbst oft mehr geholfen, als wenn wir irgendwie handeln, um unseren Selbstwert zu erhalten.
Gerade bei „emotionaler Erpressung“ spielt die Kindheit eine wichtige Rolle. Was hat der andere und was habe ich als Kind erlebt? Wie wuchsen wir – also „Täter“ und „Opfer“ – auf, sodass wir jetzt diese Situation erschaffen müssen? Was bewegt den anderen, jetzt so aufgeregt zu sein? Fragen wie diese können für Entspannung sorgen. Ich höfte mal den Piloten eines Flugzeuges sagen: „Mir wird es genauso schlecht und oft genauso schwindelig wie allen anderen Menschen auch. Aber ich habe gelernt, mich davon nicht beirren zu lassen und ruhig zu bleiben.“ Die aufgeregten „inneren Objekte“ zu beruhigen ist oft eine langwierige Aufgabe, die viel Zeit braucht. Aber mit jedem Stückchen weniger Aufregung ist viel gewonnen.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Links:
G. Anne Bogat et al. (2013):
Assessment and Psychotherapy with Women Experiencing Intimate Partner Violence
Psychodynamic Psychiatry: Vol. 41, Intimate Partner Violence: pp. 189-217
doi: 10.1521/pdps.2013.41.2.189
http://guilfordjournals.com/doi/abs/10.1521/pdps.2013.41.2.189
Dunja Voos:
Häusliche Gewalt: Der will doch nur prügeln
DocCheck, 23.7.2013
http://news.doccheck.com/de/19327/schlag-mich-ich-liebe-dich-trotzdem/
www.re-empowerment.de – Frauen gegen Partnerschaftsgewalt
Dieser Beitrag entstand auf Anregung von Dr. Christine Finke:
Blog „Mama arbeitet“, Beitrag: „Wenn du mich liebst …“
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am: 20.7.2013
Aktualisiert am 12.1.2022
Sohn einer Narzisstin meint
Ja, richtig. Warum ist hier die Frau das Opfer?
Ich habe emotionale Gewalt vom Feinsten abbekommen als schutzloses Kind und auch mein Weg war hart. Ich kenne mehr als genug Frauen die emotionale Gewalt anwenden. Ich würde sogar das Wort manifestieren wollen.
Das ist weibliche Gewalt.
Helmut meint
Was mich stört am Artikel daß hier nicht Geschlchtsneutral geschrieben wurde. Warum wurde als Beispiel die FRau als Opfer gewählt? Weiß man doch daß gerade emotionale Erpressung vorwiegend weiblicher Natur ist.
Mama arbeitet meint
Oh, vielen Dank für die Erwähnung! Liebe Grüsse, Christine