
Als Kinder sind wir völlig abhängig von unseren Eltern. Kinder sprechen oft wie ihre Eltern und bewegen sich wie sie. Manches imitieren die Kinder bewusst, anderes geht quasi „automatisch“ auf sie über. Ist ein Elternteil besonders kritisch, strafend oder gar gewalttätig, dann nimmt das Kind auch diese Eigenschaften in seine kleine Seele auf.
Wird ein Kind körperlich gequält, wirkt das Körpergefühl weiter fort. Das Kind wird sich später selbst so behandeln, wie es einst von Vater oder Mutter behandelt wurde. Es wird sich auch Freunde suchen, die es ähnlich behandeln. Unbewusst hat sich das Kind den gewalttätigen, überkritischen und nicht wohlwollenden Elternteil zu eigen gemacht – der „schlechte Vater“ oder die „schlechte Mutter“ bzw. die Kraft, die von ihnen ausging, ist zum sogenannten „malignen Introjekt“ geworden (maligne = bösartig, Introjekt = etwas Hineingeworfenes). Manche sprechen auch vom „Täter-Introjekt“.
„Daneben“ besteht auch noch das eigene „Böse“ und Aggressive, also die Seite in uns, die geweckt wird, wenn wir Hunger haben oder schlecht behandelt werden.
Angst vor Erfolg und vor den schönen Seiten des Lebens
Wer wenig gönnerhafte Eltern hatte, der hat sich eingeprägt: „Ich darf nicht zu viel Erfolg haben. Ich darf das Leben nicht zu schön finden.“ Und so leben diese Kinder als Erwachsene dann auch: Die Dinge dürfen auf keinen Fall zu schön werden, denn dann meldet sich die strafende Instanz/das strenge Über-Ich/das maligne Introjekt oder wie immer man es nennen möchte.
Man befürchtet den Neid des inneren bösen Objekts in einem und baut unbeabsichtigt einen Unfall, wird krank, ängstlich oder depressiv. So kann man das neidische Objekt in sich selbst zähmen.
Hauptsache ist jedenfalls, dass man sich für die Glücksmomente bestraft. Das alles passiert meistens unbewusst. Die Betroffenen sagen nicht: „Oh, da habe ich die strafende Mutter in mir aufgenommen.“ Sondern sie können sich ihr Unglück nicht erklären – sie sind „wunschlos unglücklich“.
Bewusstwerdung heißt noch nicht „Ende des Kampfes“
Viele wollen „die böse Mutter“ in sich los werden. Im Märchen kann die „böse Hexe“ einfach verbrannt werden. Aber im echten Leben ist das nicht immer so leicht. Das Selbst kämpft immer wieder mit diesem Fremdkörper, diesem Introjekt – auf verschiedene Weise. Mal gewinnt das „nicht-fremde Selbst“, mal das „maligne Introjekt“, das wie ein Fremdkörper erlebt wird.
Beim „Malignen Introjekt“ ist es vielleicht ähnlich wie bei der Frage nach dem Traum: Einerseits „machen“ wir ihn, wir sind der Regisseur unseres Traums, andererseits überkommt er uns und wir haben keine Chance, ihn zu steuern. Diese Frage hängt unter anderem von der Schlaftiefe ab: Je tiefer wir schlafen, desto weniger „Macht“ haben wir über unseren Traum. Vielleicht hängt die Frage des „Malignen Introjekts“ sozusagen mit der Tiefe unserer Schwäche zusammen, in der wir uns gerade befinden.
Der Psychoanalytiker Peter Kutter schreibt in seinem Buch „Affekt und Körper: neue Akzente der Psychoanalyse“ (S. 149), wie sich so ein „malignes Introjekt“ anfühlen kann:
„Ein malignes Introjekt, das mit negativer Energie aufgeladen ist, bedroht das Selbst existenziell, will es beseitigen oder zerstören. Das Selbst wehrt sich – bei den gegebenen Macht-Ohnmacht-Verhältnissen an der Basis der Entwicklung – verzweifelt gegen die Übermacht des Introjekts und versucht sich zu behaupten, kämpft um sein Überleben. Im günstigsten Fall siegt es, im ungünstigsten Fall kapituliert es, gibt auf und unterwirft sich. Ein Kompromiss wäre die anhaltende Auseinandersetzung zwischen den beteiligten Instanzen mit wechselndem Ausgang.“
Vielleicht brauchen wir das schlechte Objekt in uns
Vielleicht ist es ja auch so, dass wir ein malignes Objekt in uns brauchen. Vielleicht ist es ähnlich wie mit dem Todestrieb – er ist in uns und wird zum Leben benötigt. André Green schreibt über die Angst vor der Leere, wenn das böse Objekt in uns verschwindet:
„Wenn das schlechte Objekt seine Macht verliert, scheint es keine andere Lösung zu geben, als es wieder erscheinen zu lassen, in Form eines anderen Objekts, das dem vorhergehenden wie ein Bruder ähnlich ist, und mit dem das Subjekt sich identifiziert, um seine Auferstehung herbeizuführen. Es geht weniger um die Unzerstörbarkeit des schlechten Objekts oder um den Wunsch, sich mit seiner Hilfe der Kontrolle zu versichern, als um die Furcht, daß sein Verschwinden das Subjekt in dem Horror der Leere zurückläßt, ohne daß jemals an seine Ersetzung durch das immerhin disponible gute Objekt gedacht würde. Das Objekt ist schlecht, aber es ist gut, daß es existiert, selbst wenn es nicht als gutes Objekt existiert.“
Andre Green: Analytiker, Symbolisierung und Abwesenheit im Rahmen der psychoanalytischen Situation. Über Veränderungen der analytischen Praxis und Erfahrung. D.W. Winnicott zum Gedächtnis. Psyche, 1975, 29(6), 503-541, https://www.psychosozial-verlag.de/53789
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Link:
Peter Kutter
Affekt und Körper: Neue Akzente in der Psychoanalyse
Vandenhoeck und Ruprecht 2001
Dieser Beitrag erschien erstmals am 6.7.2012
Aktualisiert am 8.10.2020
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Thorben meint
Ich hätte ja nie gedacht, wofür mein Foto alles verwendet werden kann. In Ihren Artikel passt das Foto wunderbar.