
Träume sind eine Verdichtung von vielen Eindrücken, Gefühlen und Erfahrungen. Manche Kinder haben eine Alptraum-Figur, von der sie immer wieder träumen. Diese Alptraumfigur kann uns auch noch als Erwachsene begleiten. Diese Horrorfigur ist so etwas wie der „böse Wolf“, ein „Monster“, ein böser „schwarzer Mann“. Er hat vielleicht große Zähne, abstehende Haare, lange Finger. Er verfolgt uns im Traum, wir fühlen uns ihm ausgeliefert. Diese Figur ist oft eine Zusammensetzung aus vielen Eindrücken, die uns Angst gemacht haben. (Text & Bild: © Dunja Voos)
„Da gibt es nämlich ein Wesen, das unsere ganz spezielle Aufmerksamkeit verlangst, das trickreichste, gewissenloseste und brutalste von allen: das innenwohnende Raubtier.“ Clarissa Pinkola Estes: Die Wolfsfrau. Heyne-Verlag München, 51. Auflage 1995, S. 52
Viele Gefühle hängen an der Figur
Unser Alptraummann ist mit vielen Gefühlen belegt: Wir fürchten ihn, wir sind fasziniert von ihm, er ist uns vertraut – oder besser gesagt: bekannt. Und dennoch kann er uns fremd bleiben, auch wenn wir jahrelang von ihm träumen. Auf Anregung einer Freundin las ich „Die Wolfsfrau“, geschrieben von der Jungianischen Psychoanalytikerin Clarissa Pinkola Estés. Im zweiten Kapitel deutet sie die Geschichte des Grafen Blaubart und beschreibt hier sehr gut, wie sich ein Alptraum von so einem „schwarzen Mann“ anfühlen kann.
„Vielleicht hört sie seinen schweren Atem, oder er berührt sie an der Schulter … Die Träumerin erwacht keuchend, mit laut pochendem Herzen.“ Die Wolfsfrau, S. 86
Wir können den Alptraummann in luziden Träumen vielleicht provozieren, wir können vor ihm wegrennen, wir können ihn heraufbeschwören. Wenn wir ihn sehen, haben wir vielleicht viele kindliche Gefühle: Angst, Gruseln, Entsetzen, Überwältigtsein, aber möglicherweise auch sexuelle Erregung. Wenn wir ihn heraufbeschwört haben, kann er sich selbstständig machen. Wir verlieren die Kontrolle, er folgt seiner eigenen Logik wie der Besen in Goethes „Zauberlehrling“.
Wir können mit unserem Alptraummann zumeist nicht sprechen oder aber wir sprechen mit ihm und er antwortet nicht. Die Alptraumfigur wirkt mitunter „dumm“. Sie verfolgt uns vielleicht, aber es kommt vielleicht nie zur Berührung.
Manchmal entstehen Alptraumfiguren in Zeiten, in denen es uns als Kind extrem schlecht ging, z.B. wenn wir uns in der eigenen Familie bedroht fühlten oder wenn wir zur Strafe in den Keller gesperrt wurden. Ähnlich wie im Märchen „Rumpelstilzchen“ erscheint unser Alptraummann vielleicht in Zeiten tiefster Einsamkeit.
Weiße Kinder träumen oft vom „Schwarzen Mann“. Wie ist es mit schwarzen Kindern? Haben sie Alpträume vom „Weißen Mann?“
Ein kreatives Ergebnis
So eine Alptraumfigur ist das kreative Ergebnis der Traumarbeit unserer Psyche. Sie spiegelt unsere Kindheitsängste und -träume wider und auch das Lebensgefühl, das uns tief innen immer wieder begleitet. Manche Menschen können sich an Zeiten in ihrem Leben erinnern, in denen es diese Alptraumfigur noch nicht gab. Manche können in etwa einen Zeitpunkt nennen, als sie aufhörten, davon zu träumen.
Möglicherweise repräsentiert die Alptraumfigur auch den unausweichlichen Tod oder unseren eigenen Todestrieb, gegen den wir ankämpfen. So wird verständlich, warum er vielleicht nicht „weggehen“ kann, mit sich nicht reden lässt und unveränderlich bleibt. Andererseits kann er sich mit Veränderungen in unserem Leben unter Umständen mitverändern und neue Formen annehmen. Der Alptraummann gibt viele Rätsel auf.
„Viele Experten, die diese Geschichte (Anmerkung: Von Blaubart) studiert haben, gelangten zumdem Schluss, dass es sich bei Blaubart um eine durch und durch unbelehrbare Kraft handelt.“ Die Wolfsfrau, S. 83
„Es existiert sehr wohl“… „so etwas wie das maiifeste, absolut unerlösbare Böse …“ Die Wolfsfrau, S. 83
„Anstatt den Räuber der Psyche zu verdammen oder vor ihm davonzulaufen, zerlegen wir ihn in seine Einzelteile. Dies geschieht, indem wir uns keine Gedanken erlauben, die uns von unserem tieferen Instinktwissen abschneiden …“
Die Wolfsfrau, S. 84
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 24.11.2016
Aktualisiert am 15.08.2020
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bernhard meint
Liebe Frau Dr. Voos,
fester Bestandteil meiner kindlichen Ängste und damit immer wiederkehrende Traumfigur war die böse Hexe.
Durch ihr ständiges Erscheinen gelang es mir schon als kleiner Junge, mir hin und wieder dem Zustand des Träumens „bewusst“ zu werden und sie in diesen kurzen momenten der Klarheit (wie von Ihnen beschrieben) zu provozieren, mich bewusst in ihre Fänge zu begeben, um den Traum zu beenden oder ganz einfach aufzuwachen.
Heute verfolgt sie mich weitaus seltener, ich bin mir sicher irgendwann kann ich sie besiegen.
Lähmungserscheinungen während der Flucht vor ihr oder anderen Figuren plagen mich auch nicht mehr.
Viel zu selten werden diesen kindlichen Alpträumen die Aufmerksamkeit geschenkt, die notwendig ist.
Viel zu oft wird gesagt: „Es ist ja nur ein Traum“.
Es ist viel mehr als das, bedenkt man, dass all diese Figuren einer realen, vom Kind erlebten „Bedrohung“ entspringen.
Liebe Grüße!