Das Kind fällt hin und die Mutter sagt: „Selbst schuld!“ Die Bergsteiger hängen in der Bergwand fest und es wird eine aufwendige Rettungsaktion gestartet. „Wieso?“, fragen viele. „Sie sind doch selbst schuld!“ In meiner Ausbildung zur Psychoanalytikerin bin ich in finanzielle Not geraten. „Selbst schuld!“, sagen manche, „Du hast es ja vorher gewusst.“ Ein Arzt hat täglich mit Verletzten zu tun, die „selbst schuld“ sind an ihren Verletzungen. Wie gehen wir damit um? (Text & Bild: © Dunja Voos)
Selbstwirksamkeit erfahren heißt Glück
Kleine Babys jauchzen vor Glück, wenn sie merken, dass sie mit ihren Händchen einen Hampelmann zur Bewegung bringen. Selbstwirksam sein zu können ist eines der schönsten Gefühle, die man haben kann. Ich lächele den anderen freundlich an und er lächelt zurück. Das ist eine Mischung aus „etwas bewirkt zu haben“ und „Eigenleben des anderen“. Etwas bewirken zu können, machen zu können, ein Ergebnis zu sehen, das ist Glück.
Der Schreck, wenn man etwas falsch macht
Kleine Kinder schlagen manchmal einfach zu. Aus einer Reaktion heraus. Sie sind erschrocken. Sie schämen sich, weil sie den anderen zum Weinen gebracht haben. Sie fühlen sich manchmal, als sei die Reaktion so schnell über sie gekommen, dass sie keine Kontrolle darüber hatten. Kleinen Kindern fehlen oft noch die Worte, um bedachter an die Dinge heranzugehen. Doch bei den Erwachsenen passiert dasselbe: Ein Wort falsch gesagt und wir würden uns am liebsten nachträglich auf die Zunge beißen. Wir bereuen, was wir bewirkt haben. Manche Menschen leiden so sehr an dem, was sie getan und bewirkt haben, dass sie dafür mit ihrem Leben bezahlen.
Auf die Sichtweise kommt es an
Neben den Müttern, die zu ihrem Kind sagen: „Selbst schuld“, wenn es sich wehgetan hat, gibt es Mütter, die eine andere Haltung haben. Sie wissen, wie weh es tun kann, wenn man aus eigenem Tun heraus sich oder anderen Schmerzen zufügt. Sie haben sich ein Kind gewünscht und wimmern vor Schmerzen, wenn sie es bekommen. „Selbst schuld – hättest ja nicht schwanger werden brauchen“, sagen manche. Andere aber wissen darum, dass man im Leben einerseits „selbst schuld“ ist, aber andererseits in seinem Tun und Planen auch nicht alles berechnen kann. Erfahrungen können schmerzlich sein – und der Schmerz kommt oft in einer Stärke, mit der wir nicht gerechnet hätten.
Barmherzigkeit
Ich mag das Wort „Barmherzigkeit“, weil es so klingt, wie es sich anfühlt: warm und erlösend. Es ist so schön, wenn man auf Menschen trifft, die sagen: „Ich helfe Dir, damit Deine Wunden heilen.“ Niemand muss auf einen Berg steigen, eine Weltreise machen, ein Studium beginnen, ein Kind bekommen, sich in ein Flugzeug setzen. Niemand muss in Not geraten, wenn er das nicht will. Könnte man sagen. Aber dann würde man nicht leben. Und was wäre es für eine kalte Welt, wenn wir immer nur sagen würden: „Selbst schuld!“?
„Ich sehe Deinen Schmerz und ich stehe Dir bei, ich helfe Dir und wenn ich kann, dann rette ich Dich auch.“ Rettungen passieren jeden Tag. So wird Leben möglich.
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