Das Gefühl der „Brüchigkeit“ ist vielen Menschen mit einer Borderline-Störung bekannt. Oft war die frühe Mutter-Kind-Kommunikation bereits gestört (siehe Beatrice Beebe: Decoding the nonverbal language of babies, Youtube, 2019). Viele hatten wenig einfühlsame Eltern. In vielen Familien ging es laut zu, es wurde geschrien, es herrschte Chaos und Hysterie, die Sprache war wenig differenziert, es gab vielleicht Alkoholismus, sexuelle Übergriffe sowie psychische und körperliche Gewalt. Die Eltern konnten vielleicht kaum über sich selbst und ihr Kind nachdenken – sie waren hoch gestresst. (Text & Bild: © Dunja Voos) Weiterlesen
„Ich dachte, ich muss in die Notaufnahme oder mich umbringen“, erzählt eine Frau, die an der Angst vor dem ewigen Leben leidet (The Atlantic). Der Autor Bobby Azarian leide unter dieser Apeirophobie seit er vier Jahre alt war – als seine Mutter ihm nach dem Versterben des Opas erzählte, dass er nun fröhlich im Himmel weiterlebe (The Atlantic, 1.9.2016). Manche Menschen bekommen diese Angst mit Psychotherapie, Psychoanalyse und/oder Medikamenten in den Griff, aber viele haben bisher keinen Weg gefunden, um diesen „existenziellen Terror“ zu lindern (Azarian, 2016).
Wenn in der Vorstellung der Tod weder Erlösung noch Ende bedeutet, kann einen das nahezu verrückt machen. Es mangelt an der Vorstellung von Ruhe. In einem Online-Forum schrieb eine junge Frau: „Der Gedanke daran, dass das alles keinen Anfang und kein Ende hat, macht mich einfach fertig.“ Einerseits ist da das Gefühl, keine Grenze zu sehen. Andererseits plagt das Gefühl, die eigenen Körpergrenzen und das eigene Bewusstsein im umgrenzten Selbst zu spüren.
Bei der Angst vor dem ewigen Leben besteht einerseits das starke Gefühl, dass diese Vorstellung der Realität entspricht. Wenn Du betroffen bist, dann hast Du die Erfahrung von „ewiger Qual“ vielleicht bereits als Kind gemacht. Wenn Du in der Babyzeit ganz real quälenden Situationen ausgesetzt warst (z.B. durch medizinische Maßnahmen wie z.B. der Vojta-Therapie), dann hast Du erfahren: „Wenn ich hilflos bin, dann kann mir ganz Schreckliches passieren.“ Und als Baby hattest Du noch kein richtiges Zeitgefühl – das Leid in der Baby- oder Kinderzeit erscheint dem Baby oder Kind unendlich.
Einerseits hast Du also das Gefühl, die Ewigkeit sei ein „wahrer Kern“. Einerseits ist sie das auch: Unser Unbewusstes ist zeitlos. Andererseits spürst Du aber vielleicht auch, dass die Realität anders aussehen könnte, denn Du denkst vielleicht: „Wenn dieses schreckliche Gefühl der Angst vor dem ewigen Leben nach dem Tod nicht aufhört, dann bringe ich mich um.“ Was ist das? Ein Paradox? Ein Wunsch nach Realitätsprüfung? Eine tiefe Hoffnung? Eine Ahnung, dass es noch ein Ende geben könnte?
Wie bei anderen Phobien auch könnte die Phobie vor einem ewigen Leben nach dem Tod ein Symbol sein. So wie die Angst vor Spinnen in Wirklichkeit eine ganz andere Angst darstellen kann, so kann auch die Apeirophobie ein Hinweis auf eine andere Angst haben. Menschen, die – insbesondere früh im Leben von nahestehenden Menschen – Gewalt erfahren haben, können unter der Angst vor Ewigkeit leiden, weil die Gewaltsituation selbst scheinbar zeitlos ist.
Oft werden junge Menschen von der Angst vor der Unendlichkeit gequält – wenn wir körperlich gesund sind und voller Energie stecken, können wir uns auf unangenehme Weise unsterblich fühlen. Werden wir älter oder konkret körperlich krank, können wir unsere Grenzen besser spüren und die Angst vor der Ewigkeit kann etwas zurückgehen.
Wenn Du Dich als Kind nie abgrenzen durftest oder es in der Familie keine Grenzen gab, könnte sich Deine Angst vor der Ewigkeit, also der Grenzenlosigkeit ebenfalls verstärken. Auch können Familienthemen rund um „Grenzen“, z.B. nach Kriegserfahrungen, eine Rolle bei der Angstentwicklung spielen.
Die Angst vor der Ewigkeit erinnert an einen Zwang: Immer wieder musst Du vielleicht an Deine Angst vor der Unendlichkeit denken, denn wir sterben ja alle und können dem Tod nicht aus dem Weg gehen.
Bei einer Zwangsstörung entsteht oft das Gefühl, dass etwas vollendet werden muss: Wenn wir eine Tonleiter nur sieben Töne weit spielen und den achten Ton nicht spielen, dann bekommen wir den komischen Drang, dass wir den achten Ton noch hören möchten, um uns vollständig oder erlöst zu fühlen.
Bei der Apeirophobie ist es ähnlich: Immer, wenn wir gedanklich an ein Ende kommen, geht es weiter und wieder weiter und wieder weiter. Es ähnelt dem Gefühl des „Spiegels im Spiegel“.
Viele stellen sich vor, dass der Mensch einen sterblichen Körper, aber eine unsterbliche Seele habe. Dadurch kann sich die Angst vor der Unendlichkeit verstärken. Kirchenbesuche, in denen über das ewige Leben gepredigt wird, können hier zum echten Problem werden. Andere Menschen haben die Vorstellung, dass auch die Seele sterblich ist, wie ich es z.B. einmal von Jiddu Krishnamurti (1895-1986) auf Yotube hörte . Wieder andere stellen sich vor, dass Körper und Psyche eng zusammenhängen, dass es aber einen davon unabhängigen Geist gibt, der uns atmen und leben lässt.
Die Angst vor dem Leben nach dem Tod hängt mit der Frage des Bewusstseins zusammen. Der Mathematikprofessor Marcus du Sautoy aus Oxford hat hierzu eine wunderbare BBC-Dokumentation gedreht mit der Frage: „Bin ich ich?“ (BBC: Just what does make me ‚me‘?).
Manches verliert seinen Schrecken dadurch, dass uns etwas bewusst wird. Anderes wird uns erst gerade durch die Bewusstwerdung zum Schrecken. Das Erschreckende müssen wir erst einmal verdauen. Die Unendlichkeit macht vielen Menschen dann Angst, wenn sie wach sind und darüber grübeln, aber eher selten, wenn sie schlafen. Im Schlaf ist das wache Bewusstsein ausgeschaltet. Die Angst vergeht. Also könnte man auch sagen: Das Bewusstsein ist das Problem. Das Grübeln über die Unendlichkeit ist das Problem.
Natürlich führen sich Zahlen bis ins Unendliche fort und man könnte, rein theoretisch, bis ins Unendliche zählen, aber die Grenze ist doch deutlich: Das Zählen ermüdet uns und dadurch kommen wir eben nur so weit, wie wir kommen. Wir hören einfach irgendwann mit dem Zählen auf.
Menschen mit Nahtoderfahrungen erzählen oft davon, wie unbeschreiblich wohl sie sich gefühlt haben, als sie klinisch tot waren. Aber es gibt auch Menschen mit Nahtoderfahrungen, die sich wie in einem Horrorfilm gefühlt haben – von ihnen hört man seltener.
Wohl die meisten Betroffenen haben während notfallmedizinischer Behandlungen Nahtoderfahrungen gemacht. Ich möchte die Erfahrungen der Betroffenen nicht schmälern, aber ich möchte hier auch beruhigende Argumente finden für diejenigen, für die die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod nur schrecklich ist. Die Medikamente, die ein Patient während einer Wiederbelebung bekommt, können im Gehirn viele Empfindungen hervorrufen. Wer einmal das Narkosemedikament Propofol bekommen hat, weiß, wie gut man sich fühlen kann. Der Sterbeforscher Gian Domenico Borasio schreibt in seinem Buch „Über das Sterben“, dass er bei seinen Beobachtungen von Sterbenden keine Hinweise auf Nahtoderfahrungen finden konnte.
Unser Unbewusstes ist gefühlt „unsterblich“ bzw. „unendlich“. Es enthält Angeborenes, aus der frühesten Kindheit Eingeprägtes und später auch Verdrängtes. Als Baby und Kleinkind haben wir kein bzw. ein anderes Zeitgefühl – Momente erscheinen wie Ewigkeiten. Zu Beginn des Lebens wird ein Lebensgefühl installiert. So, wie wir uns in der vorsprachlichen Zeit fühlten, so fühlen wir uns manchmal noch als Erwachsene. Hatten wir eine bedrohliche Kindheit, ist dieses Unendlichkeitsgefühl dann mit Bedrohung verknüpft.
Das Unendlichkeitsgefühl ist eng verbunden mit dem – wie Freud es nannte – „ozeanischen Gefühl“ der Grenzenlosigkeit. „Diese immer regen, sozusagen unsterblichen Wünsche unseres Unbewussten … – diese in der Verdrängung befindlichen Wünsche, sage ich, sind aber selbst infantiler Herkunft.“
Sigmund Freud, Traumdeutung, Psychologie Fischer, 2003, S. 544
Manche alte Menschen sagen, dass sie in jungen Jahren den Tod (und das mögliche Leben danach) sehr viel mehr fürchteten als im Alter. Möglicherweise fühlt man sich im Alter gebrechlicher und man spürt die Grenze deutlicher. Vielleicht hat man auch genügend haltgebende Beziehungen erlebt und man kann leichter loslassen.
Die Angst vor der Unendlichkeit kann paradoxerweise einen großen, aber vielleicht unterdrückten Lebenshunger widerspiegeln.
Viele alte Menschen glauben nicht an ein Leben nach dem Tod oder an ein unendliches Leben. Wer Angst vor der Unendlichkeit hat, dem geht es möglicherweise besser, sobald er sich wieder sterblich fühlt und einen festen Boden unter sich spürt. Sobald er in Kontakt ist zu seinen wahren Gefühlen und sobald er versteht, dass diese Grundqual, die er vielleicht spürt, nicht ewig weitergeht, sondern irgendwann endet, geht es ihm besser.
Wenn wir eine dicke Erkältung haben, kann uns die Unendlichkeit auf einmal ganz egal sein. Der Begriff „Ewigkeit“ lässt uns an eine unendliche Zeit auf einem Zeitstrahl denken. Das macht vielen Angst. Der englische Begriff „Eternity“ ist da vielleicht hilfreich, denn er leitet sich vom „Äther“ ab, also von etwas, das uns sozusagen umgibt. Das Wort „Eternity“ erweckt eher die Vorstellung eines „Nestchens“.
Wer Angst vor der Unendlichkeit hat, dem helfen vielleicht die Vorstellungen des Psychoanalytikers Wilfred Bion (1897-1979). Er beschäftigte sich mit dem Unendlichen in uns selbst. Vereinfacht gesagt stellt das Unbewusste das Unendliche dar und das Bewusste das Endliche. Bion beschrieb es ungefähr so, dass in uns selbst unendlich viele unbewusste Eindrücke sind, sozusagen Vorläufer von Gefühlen (Beta-Elemente). In uns spüren wir sozusagen etwas Göttliches, eine große Tiefe, etwas Unfassbares. Bion führte in diesem Zusammenhang den Gedanken von „O“ ein, womit er unter anderem „Wahrheit“ meinte.
Die Beta-Elemente der Psyche können zu reifen, handhabbaren Alpha-Elementen werden, wodurch das, was vorher „unendlich“ war, endlich wird.
Aus einer spürbaren „unpersönlichen Wahrheit“ wird sozusagen eine „persönliche“ emotionale Wahrheit. Diese Umwandlung von Beta- in Alpha-Elemente geschieht am Anfang des Lebens insbesondere durch die Mutter – solange, bis wir es selbst können und selbst eine sichere „Alpha-Funktion“ entwickelt haben. Vielleicht haben Menschen mit einer großen Angst vor der Unendlichkeit zu wenig von dieser mütterlichen Alpha-Funktion erlebt und können in der Folge auch bei sich selbst Beta-Elemente schlechter in Alpha-Elemente umwandeln.
James Grotstein: Bion’s Transformation in „O“ and the Concept of the Transcendent Position:
„Beginning with Winnicott’s (1954) concept of ‚chaos‘ and Bion’s (1965) concept of ‚O‘, as well as Matte-Blanco’s (1975, 1988) concept of infinite sets, we begin to see a post-modern revision of the picture of the fundamental nature of the Unconscious. The ‚deep and formless infinite‘ is its nature. It is dimensionless, infinite, and chaotic, or, in Matte-Blanco’s terms, symmetrical and infinitized.“
(Frei übersetzt:) „Wenn wir an Winnicott’s (1954) Chaos-Konzept, an Bion’s (1965) Konzept von ‚O‘ und an Matte-Blancos (1975, 1988) Konzept der unendlichen Sets/Mengen denken, merken wir, wie wir damit beginnen, die grundlegende Natur des Unbewussten neu zu verstehen. Das ‚tiefe und formlose Unendliche‘ ist seine Natur. Das Unbewusste ist das Dimensionslose, das Unendliche und Chaotische, oder, mit Matte-Blancos Worten, das Symmetrische und ‚ver-Unendlichte‘.“
„In other words, Bion’s picture of the Unconscious, along with that of Winnicott and Matte-Blanco, conveys an ineffable, inscrutable, and utterly indefinable inchoate formlessness that is both infinite and chaotic–or complex–by nature. It is what it is and is always changing while paradoxically remaining the same.“ (www.sicap.it/merciai/bion/papers/grots.htm)
„Anders gesagt: Bion’s Bild vom Unbewussten, zusammen mit den Vorstellungen von Winnicott und Matte-Blanco, zeichnet das Bild einer nicht greifbaren und undefinierbaren Formlosigkeit, die von Natur aus beides ist: unendlich und chaotisch bzw. komplex. Das Unbewusste ist, was es ist und es verändert sich ständig, während es paradoxerweise immer das Selbe bleibt.“
Schon Fjodor Dostojewski (1821-1881) beschreibt in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ (Anaconda-Verlag 2010: S. 87) eine Frau, die sich an einen Mönch wendet und sagt:
„… alles, worunter ich leide, schon lange, lange leide! Ich leide, verzeihen Sie mir, ich leide … das zukünftige Leben, das ist mir ein Rätsel. Und niemand kann es mir lösen, dieses Rätsel! … dass mich vielmehr der Gedanke an ein Leben nach dem Tod aufregt bis zu tatsächlichem Leiden, ja bis zu Schrecken und Angst … Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. … Ich stehe da und sehe, dass allen oder fast allen ringsum mich her die ganze Sache gleichgültig ist und dass niemand sich darum Sorge macht – nur ich kann das nicht ertragen. Das richtet mich zugrunde…“ Der Mönch rät ihr dann zur „tätigen Liebe“: „Bemühen Sie sich, Ihren Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben!“
„Die Zusammengehörigkeit von Unglück und Glück – nicht in einem dritten Anderen, sondern im Glück, das sich gerade dadurch zu sich selbst bringt, daß es das Unglück sich zugehören läßt – diese Art der Zusammengehörigkeit der Entzweiten in Einem macht die wahre Unendlichkeit des Endlichen
aus.“ Heidegger-Vorlesung über Hegels Phänomenologie des Geistes.
In einer Psychoanalyse kann die Angst vor der Unendlichkeit bzw. vor dem „ewigen Leben“ möglicherweise verstanden und dadurch bedeutend gelindert werden.
Alessandra Ginzburg and Riccardo Lombardi:
Emotion as Infinite Experience: Matte Bianco and Contemporary Psychoanalysis
Franco Angeli, Milan, 2007; 311 pp.
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdf/10.1111/j.1745-8315.2008.00106_8.x
Pietro Bria and Riccardo Lombardi:
The logic of turmoil: Some epistemological and clinical considerations on emotional experience and the infinite
Int J Psychoanal (2008) 89:709–726
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18816337
Hoevels, Fritz Erik:
Die Unsterblichkeitsvorstellung im Lichte der Psychoanalyse
System ubw (unbewusst) 1/1992
Zeitschrift für klassische Psychoanalyse
https://www.medimops.de/hoevels-fritz-erik-die-unsterblichkeitsvorstellung-im-lichte-der-psychoanalyse-system-ubw-1-1992-taschenbuch-M03922774997.html
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 2.1.2014
Aktualisiert am 11.6.2023
„Sagen Sie mir, wie ich es los werden kann! Bitte!“, flehen manche Patienten. Man will ES – oder auch „DAS“ genannt – nicht haben. Es scheint hartnäckig in der Psyche zu sitzen wie ein maligner Tumor. Mit gutem Willen kommt man nicht dagegen an. In manchen Lebensphasen erscheint es überstark, in anderen könnte man meinen, es sei weg: das sogenannte „maligne Introjekt“. Manche Psychoanalytiker meinen damit so etwas wie einen „Fußabdruck“ z.B. der Mutter, den sie mit Gewalt in die Seele des Säuglings gesetzt hat. Weiterlesen
Der Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion (1897-1979) nannte noch unverarbeitete Teile in der Psyche „Beta-Elemente“ und reifere Stücke „Alpha-Elemente“. Wenn wir mit unseren Sinnen etwas wahrnehmen – seien es Eindrücke aus unserem Körperinneren oder Reize von außen – entsteht erst einmal so etwas wie ein unreifes Gefühl. Da ist irgendwie was, aber wir können es noch nicht klar denken. Dieses Gefühl von „Irgendwie-Etwas“ könnte man als Beta-Element bezeichnen. Besonders Säuglinge sind wahrscheinlich häufig überwältigt von „Beta-Elementen“, also nicht handhabbaren Eindrücken und Gefühlen.Weiterlesen