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Fernsehbeiträge über Angststörungen lassen große Lücken

Als Studentin hatte ich eine saftige Angststörung. Ich weiß genau, wie sich Panikattacken und frei flottierende Angst anfühlen und wie extrem schwierig es für mich war, Boden unter die Füße zu bekommen. Und dann heißt es in Sendungen zur Angst (wie bei WDR5 Quarks am 30.5.22), dass Angststörungen zwar extrem unangenehm, aber relativ gut zu behandeln seien. Autoren wie der Psychologe Leon Windscheid oder der Psychiater Borwin Bandelow (3SAT, Sternstunde Philosophie 2015) berichten davon.

Wer sich eine Sendung zum Thema „Angststörung“ anhört, der ist möglicherweise selbst betroffen. Und er hört sich diese Sendungen ganz hoffnungsvoll an, auf der Suche nach einer Lösung für sich selbst.

Angststörungen sind oft viel komplizierter als in den Sendungen dargestellt

Worüber die Experten in den Medien oft sprechen, sind Ängste, die sich noch irgendwie beherrschen lassen oder die tatsächlich relativ leicht zu behandeln sind. Es sind oft Ängste „mit Grip“, wie ich es nenne: Da gibt es noch etwas zum Anfassen. Die Gedanken können die Gefühle noch erreichen.

Meine Erfahrung als Psychotherapeutin ist jedoch die, dass viele Menschen von einer sehr schweren Angststörung betroffen sind. Gedanken und „Bewertungen“ haben keinen Einfluss mehr auf das Geschehen. Gedankenanalyse und „Umdenken“ wirken so gut wie gar nicht. Die Angst kommt aus dem Unbewussten wie ein Reflex.

Als ich noch in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, sah ich so manchen Patienten immer wieder in die Klinik kommen. Viele berichten mir in meiner Praxis, dass sie vieles versucht haben und dass ihre Therapieversuche auf den ersten Blick auch zu helfen schienen. Doch schon bald nach den ersten Erfolgen kehrten die Ängste unvermindert stark zurück.

Angst nahe an der Furcht ist gut behandelbar

Bei den Ängsten, von denen in den Radiosendungen die Rede ist, haben die Betroffenen oftmals relativ konkrete Angstbilder und handfeste Sorgen. Sie wissen, wovor sie sich da fürchten. Daher wird in den Radio- und Fernsehbeiträgen aus meiner Sicht auch eher eine Angst besprochen, die nahe an der „Furcht“ ist. Die „Furcht“ vor dem Tiger fühlt sich handfest an. Die Angst davor, eine Rede zu halten, mit dem Auto oder dem Aufzug zu fahren, ist da schon etwas „bodenloser“ – ein Schwebegefühl kommt hinzu.

Manche Betroffene können hier durch Übungen, durch Medikamente, Entspannungsübungen und Verhaltenstherapie genügend Hilfe finden, sodass sie einigermaßen gut mit ihrer Angst leben können oder sie sogar ganz verlieren.

Unverdauliche Ängste

Was in den meisten Sendungen, die ich bisher gehört habe, fehlt, ist das Sprechen über die wirklich bodenlose Angst „ohne Grip“. Es ist eine Angst, die den Betroffenen scheinbar grundlos überfällt und die verbunden ist mit einem Gefühl der ewigen Dunkelheit, der ewigen Weite, des Fallens, der tiefen Sinnlosigkeit und/oder einer abgrundtiefen Einsamkeit.

Andere Menschen scheinen zur Bedrohung zu werden. Tief in den Betroffenen bebt es. Weinen ist kaum möglich, dazu ist der Zustand zu schwebend. Die Angst erscheint wie ein ewiges Verlorensein. Es herrscht tiefe Verzweiflung vor.

Diese Angst ist so groß, so unaushaltbar und so ohne Worte, dass die Betroffenen kaum darüber sprechen können. Sie haben das Gefühl, dass niemand sie versteht. Die Realität scheint nicht mehr zu greifen – nichts und niemand scheint den Betroffenen in diesem Moment beruhigen zu können.

Diese sehr große Angst belastet meiner Erfahrung nach viele Menschen. Sie haben unzählige Therapieversuche unternommen. Und dann hören sie, dass die Angststörung relativ leicht zu behandeln sei. Da kommt Ratlosigkeit auf. Die sehr schweren Ängste wie z.B. bei der Psychose oder Schizophrenie seien sehr selten und etwas ganz anderes, so die Experten.

Die Betroffenen denken verzweifelt: „Was mache ich bloß falsch?“

Die Betroffenen leiden an einer sogenannten „namenlosen Angst“. Sehr häufig stammt sie von frühen Traumata. Babys und Kleinkinder können nach Ansicht der Säuglingsforscher extrem starke Ängste, ja Todesängste, haben. Wer als Kind nicht das Glück hatte, eine ausreichend gesunde Mutter und einen Vater zu haben, die diese Ängste für sie verarbeiteten, der leidet unter Umständen ein Leben lang an diesen schweren Ängsten.

Bilder und Worte fehlen als Anker

Ängste, die im vorsprachlichen Bereich auftreten, können auch später nicht in Worte gefasst werden. Jede Angstattacke ist eine Art „Erinnerung“ an diese frühen Ängste. Es gibt jedoch keine Bilder und keine bewussten Erinnerungen zu dem, was den Betroffenen damals geschehen ist. Die Betroffenen haben oft Angst, „verrückt“ zu werden. Die Ängste erscheinen tatsächlich „Psychose-nah“, ohne dass die Betroffenen jedoch „wirklich verrückt“, also „psychotisch“ sind. Dennoch: Auch Psychosen lassen sich erklären und mittels intensiver Psychotherapie bzw. Psychoanalyse auch ohne Medikamente behandeln.

„Ich habe noch nie einen Schizophrenen gesehen, dessen Leben mich nicht genau so verrückt gemacht hätte.“ Bertram Karon (1930-2019)

Viele unreife psychische Elemente machen uns Angst

Wir haben in unserer Psyche reife und unreife Elemente. Ein „reifes Element“ wäre z.B. eine psychische Bewegung wie diese hier: „Der Tod meiner Schwester hat mich tief bewegt. Noch heute fühle ich mich schuldig für ihren Tod, obwohl ich weiß, dass ich nichts dafür kann. Wenn ich einem Arzt begegne, der so aussieht wie der Arzt, bei dem meine Schwester starb, bekomme ich Angst.“

Hier gibt es Zusammenhänge, bewusste Erinnerungen, Bilder und Sprache. Die anderen Menschen können das verstehen und den Betroffenen trösten. Vielleicht kommen Tränen der Trauer und des Mitgefühls.

Ein unreifes psychisches Element kann wie eine Bedrohung aus einem Horrorfilm erscheinen: Man weiß, dass da „was ist“, aber man kann es nicht zuordnen. Wenn Betroffene von dieser Angst erzählen, benutzen sie häufig einfach das Wort „Das“ („Das kommt immer wieder. Das soll weggehen“).

Man möchte weglaufen, weiß aber nicht, wohin. Man fühlt sich vielleicht bröckelig. Zu diesem extremen Gefühl des Unwohlseins gibt es keine Sinnzusammenhänge, keine geschichtliche Einordnung, kein Narrativ. Psychoanalytiker sagen: Da ist etwas in der Psyche „nicht repräsentiert“.

Manche sprechen auch von „irrationalen Ängsten“, doch Ängste haben immer einen Grund. Innere Bedrohungen können sich gefährlicher anfühlen als äußere, reale Bedrohungen.

Repräsentation macht’s leichter

Eine Repräsentation in unserer Psyche ist so etwas wie ein inneres Bild, eine Vorstellung, eine Erinnerung. Zum Beispiel sind andere Menschen in uns als „innere Objekte“ repräsentiert. Wir können davon erzählen, welche Erfahrungen wir mit unseren Lehrern, unseren Eltern und Geschwistern gemacht haben.

Immer jedoch, wenn ein „unreifes psychisches Element“ auftaucht, haben wir nur eine Ahnung. Wir bemerken etwas Unbekanntes, etwas Unheimliches. Wir stehen vor einem Rätsel und wir fühlen uns ohne Verbindung zu uns selbst und zu anderen. Wenn wir selbst einen guten psychischen Verdauungsapparat haben, kann dieses „Etwas“ langsam zu einem Bild oder zu einem Gefühl werden und wir können formulieren, was wir fühlen und denken. Wir spüren vielleicht „Verzweiflung“, können aber mit der Zeit verstehen, was uns verzweifeln lässt.

Bleibt das psychische Element weiterhin unreif, so bleibt es für uns quasi unerklärlich. Es ist, als würde da etwas in unserer Psyche „haken“. Und auch solche „unreifen Elemente“ sind zutiefst menschlich.

Wenn wir z.B. an den Tod denken, dann tun wir uns schwer mit inneren Bildern. Auch Begriffe wie „Ewigkeit“ oder „Nichts“ können zu einem „komischen Gefühl“ führen, weil es unsere Vorstellungskraft und Erklärungsmöglichkeiten übersteigt.

Traumatische Erlebnisse können uns die Sprache verschlagen

Wann immer wir psychisch überfordert sind, z.B. wenn wir etwas Traumatisches erleben, dann macht unsere Psyche so etwas wie einen „Leerlauf“. Wir finden zunächst keinen „Anhaltspunkt“ für unseren Zustand, keinen Anker, keine Erklärung, keinen Trost. Auch wenn wir als Erwachsene etwas Traumatisierendes erleben, sind wir häufig sprachlos. Erst, wenn etwas Zeit vergeht, wenn wir Worte und Vergleiche finden und wenn wir uns darüber mit jemandem austauschen können, dann kann die „Angst ohne Grip“ transformiert werden in etwas, was wir „begreifen“, verstehen und gut aushalten können.

Um diese tiefen Ängste geht es sehr oft bei der Angststörung.

Die Therapie der schweren Angststörung ist viel aufwendiger und erfordert viel mehr Geduld, als es uns die gängigen Beiträge über Angststörungen glauben lassen. Einer schweren Angststörung zu begegnen bedeutet oft, sich mit der tiefen Einsamkeit, die dahinter liegt, auseinandersetzen zu müssen.

Hilfe erfahren die Betroffenen oft dadurch, dass sie befähigt werden, eine tiefere emotionale Verbindung zu sich selbst, insbesondere auch zu ihrem Körper, und zu anderen herstellen zu können. Das emotionale Band zum anderen ist es schließlich, dass die schweren Ängste auffangen und transformieren kann. Diese Arbeit ist hart und langwierig und der Betroffenen sind viele.

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