Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) hängt oft mit extremen Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit zusammen – was hilft?

Wenn Du etwas Einschneidendes erlebst, z.B. einen Unfall, bemerkst Du vielleicht, wie in Dir zwei Filme ablaufen: Einerseits kannst Du klar denken, andererseits merkst Du, dass Du vielleicht wie betäubt und weggetreten bist. Viele Menschen, die einen Unfall haben, empfinden oft keine Schmerzen – oder sie erinnern sich später nicht mehr daran. Obwohl unter Dissoziation oft etwas Krankhaftes verstanden wird, so ist die Fähigkeit zur Dissoziation auch eine Stärke, die uns in extremen Situationen schützt. „Dissoziation“ heißt wörtlich „Auseinanderfallen“. Bei der Dissoziation gehen Denken und Fühlen auseinander. Besonders häufig von Dissoziationen betroffen sind schwer traumatisierte Menschen. Über die dissoziative Identitätsstörung erzählt „DieBonnies“ auf Instagram.

Die Dissoziation kann uns davor bewahren, von zu starken Gefühlen übermannt zu werden. Mit der Dissoziation ist es manchmal vielleicht wie mit unseren nächtlichen Träumen: Sie geschehen uns. Wenn Du etwas Schlimmes erlebt hast und es war zu viel (es hat Deine „Reizverarbeitungskapazität überschritten“, Spitzer/Freyberger, S. 400), dann kannst Du vielleicht detailliert von dem Geschehen erzählen, doch empfindest Du nichts dabei. Die Gefühle, die man bei den Erzählungen erwarten würde (z.B. starke Angst oder Scham), scheinen nicht da zu sein.

Psychoanalytiker arbeiten selten mit Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS), las ich. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass sie sehr wohl damit arbeiten, aber diese Namensgebung nicht im Sinn haben. Seit ich vom Münchhausen-by-proxy-Syndrom weiss, sehe ich es viel öfter. Seit ich mich auf Frühtraumatisierung spezialisiert habe, begegne ich mehr Patienten damit. Ich sah sie vorher auch schon, aber hatte diese Diagnose nicht im Sinn.

Der Psychoanalytiker Ira Brenner habe 300 Patienten mit einer DIS behandelt – ich kann mir das nur so vorstellen, dass er in einer vielleicht neuen Weise über das, was die Patienten ihm zeigen, nachdenkt. Auch ich selbst würde im Nachhinein einer Patientin diese Diagnose stellen, weil mir nun klar wird, warum sie so oft sagte: „Ich weiss es nicht“, und: „Das habe ich nie gesagt!“ Ich dachte an Verdrängung und Verleugnung, manchmal an Lüge. Jetzt verstehe ich es auch als „altered states“, als verschiedene Zustände und „Persönlichkeiten“ mit Amnesie. Es war meistens schon zu Beginn eines Gesprächs klar, in welcher Stimmung, in welchem Zustand diese Patientin gerade in die Stunde kam (vielleicht würde man in der Sprache der Psychiatrie sagen: mit welcher „gerade vorne stehenden Persönlichkeit“ sie kam). Während andere Patienten in der Sitzung nach einer guten Deutung auch wieder zu einer besseren Stimmung zurückfinden können, war diese Patientin während der ganzen Stunde eigentlich recht „stabil“ in dem Zustand, in dem sie in die Stunde gekommen war.

Der Psychoanalytiker Ira Brenner (www.irabrennermd.com) definiert die Dissoziation als einen veränderten Zustand mit Abwehrcharakter. Durch Selbsthypnose komme es zu Verdrängung und Spaltung. Es könnten dadurch Wachheit, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Identität gestört werden: „He redefines dissociation as a defensive altered state, due to autohypnosis, which augments repression or splitting. Depending on the degree of integration of the ego, it may result in a broad range of disturbances of alertness, awareness, memory, and identity.“ (Brenner 1994) Berichte von Menschen mit Dissoziativer Identitätsstörung weisen jedoch auch darauf hin, dass sie als kleine Kinder extrem gequält wurden und nach der Qual mit einem bestimmten Namen gerufen wurden. Das heisst, es kann sich auch um etwas bisher kaum Fassbares handeln.

Als sich die Psychoanalyse entwickelte, gab es noch keine so ausgefeilten Traumakonzepte wie heute. Anfangs wurde das Wort „Hysterie“ benutzt. Die Nähe zur Hysterie im klassischen Sinne zeigt sich, wie ich finde, manchmal in dem Gegenübertragungs-Gefühl von „Schauspiel“, was sich im Beobachter auftut. Es sieht manchmal so aus, als würden Betroffene ihre veränderten Zustände wie zur Schau auf die Bühne tragen. Andererseits spürt man in der Therapie doch oft auch genau, dass die Betroffenen da kaum etwas oder gar nichts willentlich steuern können – ähnlich wie wir einen tiefen Traum weder als Traum erkennen noch steuern können. Das lang anhaltende Zuhören des Psychoanalytikers in der Analyse kann zu mehr Kontinuität und Zusammenhang führen.

Dissoziation und Hysterie

Eine Dissoziative Störung kann Teil aller möglichen psychischen Störungen sein. Die Diagnose „Dissoziative Störung“ tritt heute oft an die Stelle der ehemaligen Diagnose „Hysterische Neurose“. Man sagt, verschiedene „Ich-Zustände“ seien bei der Dissoziation nicht miteinander verbunden (sekundäre Spaltung). Doch was ist ein „Ich-Zustand“ überhaupt? Vereinfacht gesagt kennst du verschiedene Ich-Zustände wie zum Beispiel Wachsein, Einschlafen, Schlafen, Träumen und Aufwachen.

Du kennst vielleicht weitere, sozusagen natürliche Spaltungen: Wenn Du Dich schwer depressiv fühlst, kannst Du Dir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn es Dir gut geht und wenn es Dir gut geht, weißt Du gar nicht mehr, warum Du Dich manchmal so schlecht fühlst. Du spürst aber, dass Du ein und dieselbe Person bist.

Bei der dissoziativen Identitätsstörung hingegen gibt es zeitliche Sprünge mit Amnesie – der vorherige Zustand kann oft nicht mehr erinnert werden. Und auch das Thema „Erinnerung“ ist sehr schwierig – manche Patienten sagen, sie können sich erst ab einem Alter von 10 Jahren erinnern. Während einer Analytischen Psychotherapie tun sich jedoch sehr häufig frühere Erinnerungen auf. Manchmal ist es auch noch nicht möglich, über den eigenen Zustand oder über das Erlebte zu sprechen. Vielleicht kennst du das auch: Dir schwebt ein Bild im Kopf herum, aber es kommt (noch) nicht über den Weg der Kommunikation heraus.

Bei der dissoziativen Identitätsstörung kann es auch zu medizinischen Veränderungen kommen: In einem Zustand ist der Betrofffene allergisch oder hat eine bestimmte Sehkraft, in einem anderen persönlichen Zustand verändern sich Allergie und Sehwerte. Meistens sind Frauen betroffen – in der Öffentlichkeit stehen oft auch gebildete und eloquente Frauen.

Insbesondere der eigene Körper scheint im dissoziativen Zustand oft als unangenehm erlebt zu werden. Wenn du zum Beispiel Entspannungsübungen machen sollst, kann es sein, dass du gerne flüchten würdest. Auf Instagram „Die Bonnies“ beschreibt es so, dass verschiedene Personen einen Körper bewohnen – der Körper als Container für verschiedene Inhalte oder Persönlichkeiten symbolisiert aus psychoanalytischer Sicht möglicherweise Erlebnisse, bei denen etwas in den Körper hineingetan und wieder herausgeholt wurde. Manchen Kindern ist sicher Unvorstellbares geschehen. Es muss erst eine Sprache dafür gefunden werden – manches klingt erst einmal wie unbeholfenes „Psychiatrie-Sprech“. Es gibt Diskussionen darum, ob es gut ist, die einzelnen Persönlichkeitsanteile herauszuarbeiten oder den Schwerpunkt direkt auf das Zusammengehen der Anteile zu legen. Wichtig ist es wohl, dass die inneren Anteile lernen, miteinander zu kommunizieren.

Es entstehen viele Gegenübertragungsreaktionen, zum Beispiel das Gefühl, „veräppelt“ zu werden. Wenn man bedenkt, dass manche rituelle Gewalt erlebt haben, gefoltert wurden, zu Kulten und Sex gezwungen wurden, lässt sich das nachvollziehen: Es ist kaum zu glauben, dass es so etwa Grausames gibt. Ich selbst hatte einmal eine Patientin im Telefongespräch, die mir von religiösen rituellen Handlungen erzählte. Sie sei als Kind „versiegelt“ worden. Das Gespräch war grauenhaft – und glaubhaft. Und ich war fertig.

Auch ein „Neid auf das Wir“ kann sich auftun: Die Bonnies spricht von „Wir“, als sei sie eine Gruppe und fühlte sich nicht einsam – allerdings erklärt sie, dass sie sich oft einsam fühle. Viele Fragen zum Bewusstsein und zum „Ich-Erleben“ tun sich auf. Bei dissoziativen Störungen sind Erinnerungen an traumatische Lebensereignisse, an die sie sich vielleicht schon bewusst erinnern konnten, häufig verschwunden (dissoziative Amnesie). Interessant dabei erscheint mir, dass der Affekt der Angst und Verzweiflung oft zu fehlen scheint.

Bei der dissoziativen Identitätsstörung wirken die Betroffenen manchmal, als seien sie Schauspieler, die in verschiedene Rollen schlüpfen – andererseits können die Änderungen so frappierend sein, dass ein Schauspielen unwahrscheinlich erscheint. Dazu kann zum Beispiel gehören, dass sich auch die Schrift verändert. Nur, um es sich vielleicht vorstellen zu können: Wir kennen das vielleicht noch aus Schulzeiten: Manchmal haben wir unsere Vorbilder nachgeahmt – manchmal so oft und so lange, dass wir meinten, wir können uns so wie sie fühlen. Dadurch konnten wir vielleicht Schamgefühle lindern, weil wir ja nicht mehr „wir selbst“ waren. Auch die Schrift von unserem Lieblingslehrer oder unserer besten Freundin konnten wir vielleicht gut nachmachen. In der Zeit der Pubertät, in der wir uns selbst fanden, war es vielleicht noch relativ leicht, in einen anderen „hineinzuschlüpfen“.

Der Wechsel zwischen den verschienen Zuständen oder Persönlichkeitsanteilen wird „Switch“ genannt (siehe auch: „Mutwillig Switchen“ auf www.dis-sos.com/mutwillig-switchen). Betroffene sagen, dass eine Person „nach vorne“ kommt („frontet“) und dass ein Switch auch mal für einen Satz, einen Gesichtszug oder auch nur ein Wort auftreten kann. Um das nachvollziehen zu können, denke vielleicht an eigene Erfahrungen aus deinem Leben: Du kannst in bestimmten Situationen, die dir unangenehm sind, die Mimik oder die Sprechweise einer Freundin übernehmen. Manchmal machst du das vielleicht freiwillig, aber manchmal ist es dir so nah, dass du dir Mühe geben musst, es nicht zu tun. „Sei ganz du selbst“ ist manchmal die schwierigste Aufforderung überhaupt.

Manche reisen im dissoziativen Zustand weit weg – konkret in andere Länder oder innerlich in andere Zustände. Sie wissen nicht, wie sie dorthin gekommen sind, wo sie sich auf einmal wiederfinden (dissoziative Fugue [sprich: Fjuug]). Dabei sind sie meistens die ganze Zeit dazu fähig, gut für sich zu sorgen, sodass sie auf andere zunächst normal wirken. Hier findet sich mitunter eine Nähe zu manischen Phasen bei der bipolaren Störung. Psychotische Patienten hingegen sind oft ungepflegt und verwahrlost.

Die Psychotherapeutin Michaela Huber arbeitet mit Kindern und Jugendlichen, die eine dissoziative Identitätsstörung haben. Sie erzählt von kriminellen Systemen, in denen die Kinder aufwuchsen, die an Grausamkeit nicht zu übertreffen sind – so wir vieles, was sich bei der DIS beobachten lässt, nachvollziehbar: Youtube. Manche Kinder wuchsen in Systemen auf, in denen die Täter bewusst die Persönlichkeit aufspalteten, z.B. durch Folter, nach der die Kinder dann mit einem neuen Namen angesprochen wurden, so erzählt Michaela Huber. Manche Kinder seien dahingehend „trainiert“ worden, in einer bestimmten Persönlichkeit anderen zu dienen. Auf dem Blog aufgeklaertdiestimmederbetroffenen.blogspot.com wird z.B. von der kriminellen Vereinigung „764“ gesprochen – interessant dabei ist, dass ein Name von „Die Bonnies“ „46“ lautet.

Auch die Trance oder Zustände, in denen man sich wie besessen fühlt, können zur dissoziativen Bewusstseinsstörung gezählt werden. Durch Hypnose lassen sich bestimmte Personenanteile „hervorholen“. In welchem Zustand wir sind, hängt sicher auch davon ab, mit wem wir gerade zusammen sind und wo wir uns befinden. Vor unserem Chef fühlen wir uns anders als vor unseren Kollegen. Eine bestimmte Bewegung – bei anderen oder eine Körperhaltung des Betroffenen selbst – kann schon ausreichen, um einen Switch hervorzurufen.

Bei „Die Bonnies“ scheinen die Persönlichkeitsanteile relativ „normal“ und wie gute Nachbarn oder Familienmitglieder in Harmonie miteinander zu sein, also nicht verfolgend, beängstigend oder besetzend. Angst entstehe erst, wenn ein Anteil unterdrückt werden soll. Das klingt einleuchtend – es ist ähnlich wie bei Zwangsstörungen, bei denen Angst entsteht, wenn der Zwang unterlassen werden soll.

Exkurs: Besessenheits- und Verfolgungsgefühle können durch eigene starke Sehnsüchte entstehen, aber auch durch frühe körperliche Gewalt oder medizinische Eingriffe, in der wir die „Invasion in den Körper“ als traumatisch erlebten. Auch sexuelle Gewalterlebnisse können zu Gefühlen der Besessenheit führen, ebenso wie die Situation, dass einem nicht geglaubt wird oder dass man permanent nicht verstanden wird. Hier kommen auch Assoziationen zu veränderten Zuständen beim Exorzismus auf, was wiederum eng mit dem Thema Sexualität (Zustände von Erregung und Orgasmus) verbunden ist (siehe: Stephan investigates islamic exorcism, Youtube, 2018). Manchmal wird bei Opfern von sexuellem Missbrauch auch die eigene sexuelle Lust als verfolgend erlebt.

Warum hilft das Wissen nicht?

„Wenn die Person doch von den verschiedenen Zuständen oder ‚Persönlichkeiten‘ weiss, warum hilft ihr das nicht?“ Ich stelle es mir vor wie im Traum: Auch, wenn wir noch so viel über Traum, REM-Schlaf und delta-Wellen wissen, so geraten wir doch in den Traum und können das weder erkennen noch steuern.

Nicht nur ein „Zuviel“ an bestimmten Reizen kann zu Retraumatisierungen oder dissoziativen Zuständen führen – auch die Abwesenheit wichtiger Bezugspersonen ist oft Auslöser für dissoziative Zustände. Die Abwesenheit anderer erinnert dich möglicherweise an frühe Zustände, in denen du sozusagen von allen guten Geistern verlassen und „mutterseelenallein“ warst.

Dissoziation und Verdrängung

Dissoziation bedeutet manchmal auch „Verdrängung“, wobei ungewollte Gefühle, Wünsche und Erinnerungen ins Unbewusste verdrängt werden. Manchmal können wir „willentlich vergessen“, was wir gestern Mittag gegessen haben. In Situationen, die an traumatische Ereignisse erinnern, können sich vegetative Symptome wie Herzrasen, Zittern, Durchfall, Harndrang oder Übelkeit bemerkbar machen. Unspezifische vegetative Symptome wie z.B. Herzrasen oder Durchfall zählen jedoch eigentlich nicht zur Dissoziation. Bei der Dissoziation bleiben offensichtliche Angstreaktionen häufig aus. Vielleicht fehlt es sogar an eigenen aggressiven Regungen. Doch etwas anderes Unangenehmes kann eintreten: Die Dissoziation „führt mittelbar zu einer Bedrohung der Selbstkohärenz“ (Spitzer/Freyberger, S. 400). Dazu kann z.B. gehören, sich selbst nicht mehr im Spiegel angucken zu können.

Meiner Erfahrung nach wird heute manchmal gesagt: „Der Patient dissoziiert“, wo vor einigen Jahren noch gesagt wurde: „Der Patient hat eine Panikattacke.“ Ich denke, heute wird eher von „Dissoziation“ gesprochen, weil die Psychotherapieforschung die Zusammenhänge zwischen Traumata und psychisch-körperlichen Symptomen deutlicher herausgearbeitet hat. Ich stelle aber auch immer wieder fest, dass Psychiater und Psychoanalytiker manche Begriffe unterschiedlich verwenden.

Von „Konversion“ spricht man, wenn die Symptome ein Problem symbolisch darstellen. Beispiel: Du willst weglaufen, kannst Dir das aber aufgrund sozialer Zwänge nicht erlauben – dann kann es zur Lähmung der Beine kommen. Oder Du hast einen Konflikt, möchtest „Nein“ sagen und dann bleibt Dir die Stimme weg. Zur Konversion kann auch die dissoziative Blindheit gehören, die oft daran zu erkennen ist, dass die Betroffenen keinen grossen Leidensdruck zu haben scheinen und trotz „Blindheit“ Gegenständen ausweichen. Bei dissoziativen Krampfanfällen könnte man an epileptische Anfälle denken, jedoch reagieren die Pupillen beim dissoziativen Krampfanfall noch ganz normal auf Licht. Es gibt beim dissoziativen Krampfanfall in der Regel keine Zungenbisse, kein „Einnässen, keine vegetative Dysregulation und selten schwere Verletzungen.“ (Spitzer/Freyberger, S. 398)

Die „Dissoziation“ kann auch eine Reaktivierung körperlicher und psychischer Zustände sein, die wir als Baby oder Kleinkind erlebten und für die wir bis heute keine Worte haben. Auch schwere Traumata in späteren Lebensabschnitten können zur Sprachlosigkeit führen. Allein schon der Gedanke an ein schwieriges und unlösbares Thema (z.B. Angst vor dem Tod) kann uns innerlich so überfordern, dass wir in einen „schwierigen Zustand“ geraten.

Panikattacken, Hyperventilation und Derealisation sind Erscheinungen, die im (Klinik-)Alltag manchmal auch als „Dissoziation“ bezeichnet werden. Ich halte den Begriff „Dissoziation“ für so vieldeutig, dass ich ihn nur selten gebrauche.

Die Dissoziation hat viele Gesichter

Es gibt laut Lehrbuch Dissoziationen der Wahrnehmung, des Denkens und der Affekte (Affektdissoziation). In Wirklichkeit lassen sich diese drei Formen jedoch nicht immer so genau voneinander abgrenzen. Viele Betroffene beschreiben ein Einengen des Blickfeldes, ein komisches Empfinden der eigenen Stimme, eine störende Wahrnehmung der eigenen Hände (Depersonalisation), ein wattiges Gefühl im Kopf, Schwindel, Fremdheitsgefühle und ähnliches. Das „Undefinierbare“ herrscht vor, weswegen sich viele kneifen oder auf die Oberschenkel schlagen, um wieder „zu sich“ (also zu ihrem Körper) zu kommen.

Wenn Du dissoziierst, geschieht dies vielleicht „ganzheitlich“, also auf allen drei Ebenen (Wahrnehmen, Denken, Fühlen). Das Prinzip bleibt gleich: Du nimmst nur einen Teil des Ganzen wahr, denkst vielleicht extrem in eine Richtung und fühlst nur einen Teil Deiner Gefühle. Der Bezug nach außen, zum anderen, geht teilweise verloren, aber auch der Bezug zu Dir selbst fühlt sich „gestört“ an. Das empfindest Du vielleicht als Ich-dyston (also nicht „normal“) und quälend. Interessant finde ich, dass bei „Die Bonnies“ meistens Ich-synton wirkt.

Wenn wir wütend sind, sagen wir oft: „So kenne ich mich nicht, das bin ich nicht.“ Ich denke jedoch, dass das „Ich-Gefühl“ in allen Zuständen das Gleiche bleibt – vielleicht in verschiedenen Stärken, aber dennoch das Gleiche. So, wie der Körper an sich der Gleiche bleibt, auch, wenn er altert oder wenn wir uns verkleiden.

Wenn wir besonders viel von unserem bewussten Erleben abspalten (oft passiert es ja auch automatisch, genauso wie uns ein Traum „passiert“), dann fehlt uns ein Stück „Identität“. Die Diagnose lautet dann unter Umständen „Dissoziative Identitätsstörung/Persönlichkeitsstörung“ (DID), auch „Multiple Persönlichkeitsstörung“ (Multiple Personality Disorder, MPD) genannt. Der Psychotherapeut wird manchmal dann auf die „verschiedenen Persönlichkeiten“ aufmerksam, wenn er einen „Switch“ mitbekommt, also einen Wechsel zwischen den Persönlichkeiten (Spitzer, Freyberger, S. 398). Hierbei muss vieles mit berücksichtigt werden: Welche Geschichte hat der Betroffene? Besteht eine Sucht, nimmt der Betroffene Medikamente, besteht eine körperliche Erkrankung?

In einer Psychotherapie wird oft über einen sehr langen Zeitraum das, was vorher „dissoziiert“, also irgendwie abgespalten war, „integriert“. Das heißt, in der Psyche werden die einzelnen Teile zusammengeführt. Die körperliche Präsenz des Psychotherapeuten kann manchmal bedrohlich, manchmal beruhigend wirken – doch sie ist es auch, die zu Kontinuität, Ganzheit und Erleichterung führen kann. Auch den Begriff des „Co-Bewusstseins“ finde ich hilfreich – befrag dich innerlich, wie es dir (oder deinen Anteilen) geht, was du befürchtest, was du dir wünschst. Du kannst auch durch Lernen und logisches Denken viel über Deine speziellen Themen herausfinden, z.B. in wissenschaftlichen Texten. Das Nachdenken war vielleicht schon früh eine „Überlebensstrategie“ von Dir. Dem kannst Du ruhig weiter nachgehen – andererseits vergiss Deinen Körper nicht und „komme ins Fühlen“, wie es so schön heißt. Eine gute Umgebung kann Dir helfen, Dich wieder besser zu fühlen – ein schönes Licht und frische Luft können Balsam für Deine aufgeregte Seele sein.

Lerne in guten Zeiten, zu meditieren. Wenn du dich an deine Träume erinnern willst, bleibe direkt nach dem Wachwerden ruhig liegen. Überfordere dich nicht. Versuche, in irgendeiner Form Mitgefühl für Dich selbst zu entwickeln, auch, wenn es in bestimmten Zuständen selbst kaum geht. Wenn Du aber im Nachhinein traurig sein und weinen kannst, löst sich vieles. Versuche, selbst Kontakt zu deinen eigenen aggressiven Anteilen zu finden, ohne dich für „böse“ zu halten. Jeder Mensch hat auch aggressive Anteile – wichtig ist der gute Umgang damit. Und stresse Dich nicht: Was Du erlebt hast, war möglicherweise „namenlos“. Es ist ein hoch individueller Teil Deiner inneren Welt, deiner bewussten und unbewussten Erinnerungen und deiner Lebenszeit, sodass dies auch zu starken Einsamkeitsgefühlen führen kann. Viele können sich nicht vorstellen, wie hartnäckig das bedrohliche Innenleben sein kann. Gehe ruhig Deinen Weg und finde neugierig selbst heraus, was welche Zustände in Dir verursacht und wodurch diese Zustände wieder abebben. Schreibe deine Lebensgeschichte auf.

Danielle Knafo und Michael Selzer schreiben in „From Breakdown to Breakthrough“, Routledge 2024: S. 59: „Gradually, bearing witness without intruding facilitates the patient’s internal cohesion … Grossmark (2016) has written about the therapist becoming a psychoanalytic companion to patients who are unable to engage in mutuality. How transformation occurs is less the result of what the therapist does than what they do not do.“ (Frei übersetzt von Voos:) „Der Prozess, in dem der Psychotherapeut sich als nachträglicher Zeuge zur Verfügung stellt, ohne einzugreifen, ermöglicht es dem Patienten, sich innerlich zunehmend kohärent zu fühlen. … Grossmark (2016) hat darüber geschrieben: Der Therapeut, der zum psychoanalytischen Begleiter von Patienten wird, die nicht zur wechselseitigen Kommunikation fähig sind, ermöglicht die Transformation. Diese ist weniger das Ergebnis dessen, was der Therapeut tut als vielmehr dessen, was er nicht tut.“

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Grossmark, R (2016):
Psychoanalytic companioning
Psychoanalytic Dialogues 22(6): 629-646

Danielle Knafo, Michael Selzer (2024):
From Breakdown to Breakthrough
Psychoanalytic Treatment of Psychosis
Routledge, 2024

Brenneis C.B., 1994
Memories of childhood sexual abuse
Joural of the American Psychoanalytic Association 42: 1027-1053

https://aufgeklaertdiestimmederbetroffenen.blogspot.com

Alexander Jatzko (Juni 2024):
Traumafolgestörungen in der Bildgebung
https://doi.org/10.13109/leid.2014.3.1.12
www.vr-elibrary.de/doi/abs/10.13109/…
„Bei der Posttraumatischen Belastungsstörung zeigt sich, dass Bereiche des bewussten Denkens bei Konfrontation mit dem Trauma weniger durchblutet und damit weniger aktiv sind.“

Ira Brenner 1994:
The dissociative character: A reconsideration of „multiple personality“.
Journal of the American Psychoanalytic Association 42: 819-846
PMID: 7963232,  DOI: 10.1177/000306519404200307
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/7963232/
„He (Brenner) redefines dissociation as a defensive altered state, due to autohypnosis, which augments repression or splitting. Depending on the degree of integration of the ego, it may result in a broad range of disturbances of alertness, awareness, memory, and identity. Four vignettes are presented which illustrate a transient hypnoid state, „characterological“ dissociation in an upper-level dissociative character, and two cases of MPD, including one emerging in analysis.“

Grayson, R. S. (2002)
Dissociation of Trauma: Theory, Phenomenology, and Technique.:
Ira Brenner, M.D. Madison, CT: Int. Univ. Press, 2001. 270 pp.. Psychoanalytic Quarterly 71:833-837
pep-web.org/search/document/PAQ.071.0833A?page=P0833
„Brenner has been studying and treating these patients with an intensive, analytically based approach for over twenty years. He states that he has evaluated or treated more than 300 patients with DID. He presents his seasoned ideas about many aspects of dissociative disorders, well supported by clinical data.“

Leben mit dissoziativer Identitätsstörung
ARTE
www.youtube.com/watch?v=B8WaiqCLyP0

International Society for the Study of Trauma and Dissociation
www.isst-d.org

Dissociative Experiences Scale

Jörg M. Fegert und Frank Urbaniok (2024)
Ritueller sexueller Missbrauch
Der Nervenarzt, Volume 95, pages 1071-1078 (2024)
Open Access
https://link.springer.com/article/10.1007/s00115-024-01652-2
„Teilweise wird von Therapeut:innen eine QAnon-ähnliche Ideologie vertreten. Demnach soll eine geheime, im Untergrund arbeitende (satanische oder anders weltanschaulich geprägte) sektenähnliche
Organisation aus ideologischen Gründen systematisch Kinder quälen,missbrauchen und töten. Es gibt trotz zahlreicher Ermittlungsverfahren bislang keinen einzigen Fall, in dem sexuelleMissbrauchshandlungen aus ideologischen Motiven durch eine mächtige subversiv arbeitende Organisation nachgewiesen wären.“

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist vojtatherapie_bei_babys_ein_aufschrei_klein-1.jpg

Dunja Voos:
Vojta-Therapie bei Babys – ein Aufschrei
Hilfe bei einem speziellen Trauma
Selbstverlag, Februar 2021

Sigmund Freud: „Sie finden bei Janet eine Theorie der Hysterie, welche den in Frankreich herrschenden Lehren über die Rolle der Erblichkeit und der Degeneration Rechnung trägt. Die Hysterie ist nach ihm eine Form der degenerativen Veränderung des Nervensystems, welche sich durch eine angeborene Schwäche der psychischen Synthese kundgibt. Die hysterisch Kranken seien von Anfang an unfähig, die Mannigfaltigkeit der seelischen Vorgänge zu einer Einheit zusammenzuhalten, und daher komme die Neigung zur seelischen Dissoziation. “ Sigmund Freud: Über Psychoanalyse, 1910, Projekt Gutenberg

Ruth Riesenberg-Malcolm:
Unerträgliche seelische Zustände erträglich machen. Psychoanalytisches Arbeiten mit extrem schwierigen Patienten.
Verlag: Stuttgart, Klett-Cotta, 2003
zvab.com

Dissoziative Identitätsstörung: Interview mit Psychotherapeutin Michaela Huber
www.youtube.com/watch?v=olCeiUXrARw

Andreas Mokros
Rituelle sexuelle Gewalt. Eine kritische Auseinandersetzung mit fragwürdigen empirischen Belegen für ein fragliches Phänomen
Psychologische Rundschau, Volume 75, Issue 3, Juli 2024
doi.org/10.1026/0033-3042/a000663
econtent.hogrefe.com/doi/10.1026/0033-3042/a000663

Richard Kluft:
The Psychoanalytic Psychotherapy of Dissociative Identity Disorder in the Context of Trauma Therapy
Psychoanalytic Inquiry, Vol. 20, 2000, Pages 259-286
doi.org/10.1080/07351692009348887
www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/07351692009348887
„Psychoanalysis and the study of dissociation and the dissociative disorders have had a long, if uneasy, uncomfortable, and often mutually avoidant relationship (Berman, 1981; Kluft, 1995b). Ernest Jones (1953) reports that the index case of the „Studies on Hysteria“ (Breuer and Freud, 1893-1895), Fraulein Anna O, suffered a condition with ‚the presence of two distinct states of consciousness: one a fairly norlmal one, the other that of a naughty and troublesome child‘ … Breuer and Freud initially hypothesized that ‚the splitting of consiousness which is so striking in the well-known classical cases under the form of ‚double consciousness‘ is present to a rudimentay degree in every hysteria …“

Richard David Precht:
Wer bin ich und wenn ja wie viele?
Goldmann-Verlag, Neuauflage 2024
amazon

Es waren viele Männer – und die Mütter
Zwei Frauen berichten von sadistischer Gewalt, die sie als Kinder ­erlitten. Über Jahre. Sie sagen: Hätten Menschen genauer hingesehen, hätten sie etwas bemerken können.
Christine Holch (Text), Patricia Morosan (Foto), 25.02.2019
https://chrismon.de/artikel/2019/43165/organisierter-missbrauch-auch-von-vaetern-und-muettern

Die Nickies – ein Blog von vielen
einblogvonvielen.org/die-nickis-ein-lichtstrahl/

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 29.12.2012
Aktualisiert am 24.9.2025

4 thoughts on “Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) hängt oft mit extremen Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit zusammen – was hilft?

  1. Sumsi sagt:

    ….eine DIS ist KEINE Krankheit,es wird nur leider immer wieder so hingestellt…..von DIS Menschen kann man vieles lernen!
    Man sollte diese Menschen besser „ehren“ anstatt sie durch Unkenntnis zu stigmatisieren!!
    Das musste nun mal „gesagt“werden.

    Frdl.Gruesse

  2. Riabe sagt:

    Schade, dass hier nur das steht, was auf Wikipedia und 2000 anderen Seiten ebenfalls über die DIS zu finden ist.
    Bei der PTBS erwähnen Sie, dass das Wort „Störung“ eigentlich nicht passt. Das tut es hier auch nicht. Dissoziative Identitätsstruktur wäre mMn treffender. Denn es ist ja eben jene, welche dissoziativ ist, und nicht gestört: im Gegenteil, manche Identitätsabspaltungen sind sogar sehr gesund.
    Vielleicht kommt ja irgendwann ein Text dazu, der es erlaubt, ihn an Freunde und Verwandte zu schicken; um die DIS für „Fremde in der Fachsprache“ verständlich zugänglich zu machen, ohne eigene Geschichte einweben zu müssen.
    Ich wäre sehr froh darum. Denn obwohl vertraut mit Fachdeutsch und der Diagnose, bzw Psychoedukation, ist es enorm schwierig, die eigene Lebensrealität zu erklären, ohne sich zu sehr zu offenbaren. Die DIS überfordert, meiner Erfahrung nach, nämlich auch die besten Freunde…

    Freundliche Grüsse
    RiaBe

  3. Polyperson sagt:

    Ist es möglich, dass meine Innies sich Geschichten ausdenken, die meinen in ihn steckenden Gefühlen eine Form geben, die mich die Gefühle aus der Distanz fühlen lässt, ohne mir weh zu tun?

  4. Melinas sagt:

    Ja, das ist wahr – so habe ich es in meinem Blog auch beschrieben. Ich finde in meinen selbstgeschriebenen Geschichten mich – auf eine neue Weise – sozusagen die Gefühle dazu, die ich damals irgendwie scheinbar nicht fühlte oder irgendwo weggesperrt waren. Es sind Puzzleteile, die ich da finde. Im Buch „Weltenchaos“ sind da viele davon drin – auch verschachtelt. Aber noch mehr von diesen Gefühlszuständen-Geschichten habe ich in letzter Zeit geschrieben. Sozusagen eine Art Biographie in Geschichten – meiner.

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