Langeweile: ein Un-Gefühl

Bist du gelangweilt, bist du zu müde zum Wachsein und zu wach zum Schlafen. Ein Sonntagnachmittagspaziergang bei heissem Wetter kann auch zeigen: Übelkeit und Langeweile liegen nah beieinander. Wir essen, trinken, schlafen aus Langeweile. Wir warten darauf, wieder anzuspringen, doch nichts spricht uns an. Wir brauchen Resonanz. Übermäßiges Versorgtsein kann das Gefühl von Langeweile hervorrufen. Hingegen ist das Nicht-Wissen, was man morgen zu essen hat, oft das Gegenteil von Langeweile. Der Mangel ist ein Motor.

Bei Langeweile fehlt uns die Verbindung – zu uns selbst, zum anderen, zu unserer Arbeit. Nachmittage können langweilig sein, aber auch ganze Lebensphasen. Bei der Langeweile ist die Fähigkeit, zu träumen, häufig stark vermindert. Man sitzt dumm rum, dabei könnte man doch irgendetwas Sinnvolles tun. Aber alleine? Ja, auch Einsamkeit und Langeweile hängen zusammen.

Langeweile entsteht oft durch Deprivation der Sinne. Wer ohne Außenreize in eine dunkle Zelle gesperrt wird, entwickelt Halluzinationen. Unser Gehirn braucht Außenreize. An Langeweile kann man möglicherweise sterben. Es ist sterbenslangweilig. Oder auch stinklangweilig. Manchmal vergeht das Langeweile-Gefühl, wenn wir eine heiße Schokolade, einen Vitaminsaft oder Kaffee getrunken haben.

„Alle ham’nen Job, ich hab‘ Langeweile,
keiner hat mehr Bock auf Kiffen, Saufen Feiern,
so ist das hier im Block tagein, tagaus,
halt‘ mir zwei Finger an den Kopf und mach: bäng, bäng, bäng.“
Kids: Zwei Finger an den Kopf. Von Rapper Materia, Youtube)

Überdruß

Wenn du wo bist, wo du nicht sein willst. Wenn du nicht weg kannst. Wenn keiner an dich glaubt, wenn sich niemand für dich interessiert und du deine eigene Neugier unterdrückst, dann ist dir langweilig. Regeln langweilen, Bevormundung langweilt. Zu wenig Geld kann langweilen, wenn du deine Wünsche nicht erfüllen kannst. Du spürst die Magensäure, den faden Geschmack im Mund. Du möchtest laufen und kannst doch nicht. Abends liegst du mit unruhigen Beinen im Bett. Ist Langeweile auch eine Frage des Dopamins? Es gibt zwar Antidepressiva, aber keine Antilangeweilika.

Das Schild für „Sackgasse“ ist langweilig.

„Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? … In einer Langeweile ist die Frage da, wo wir von Verzweiflung und Jubel gleich weit entfernt sind, wo aber die hartnäckige Gewöhnlichkeit des Seienden eine Öde ausbreitet, in der es uns gleichgültig erscheint, ob das Seiende ist oder ob es nicht ist, womit in eigenartiger Form wieder die Frage anklingt: ‚Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?'“ Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. Max Niemeyer Verlag Tübingen, 1953: S. 1 (PDF)

Es gibt kein Ziel, kein Ergebnis, kein Fest, auf das man sich freut

In der Psychoanalyse wird es oft langweilig, wenn man versucht, einer Begegnung aus dem Weg zu gehen. Erzählt der Patient nur über eine Begebenheit nach der anderen und klammert er sich selbst oder den Analytiker aus, wird’s langweilig. Und umgekehrt: Wenn sich der Analytiker nicht für den Patienten interessiert, fühlt sich der Patient wie im Leerlauf. Wenn sich beide wieder aufeinander beziehen, fühlen sich beide wieder aufgeweckt. So ist es oft auch in Beziehungen: Sobald wir uns zeigen und uns für den anderen interessieren, sobald wir „wachgeküsst“ werden, geht’s bergauf. Langweilig ist uns vielleicht auch oft in klassischen Konzerten, wenn uns die Musik nicht anspricht und sich langsame Sätze bis in alle Ewigkeit ziehen.

Der langsame Satz des Mozart-Klarinetten-Konzerts ist für mich das vermusikalischte Sinnbild der Langeweile – die langen Töne ziehen sich durch meinen Unterkiefer und ich bin zu gelähmt, um wegzulaufen.

Langeweile, Abhängigkeit, Einsamkeit und Perspektivlosigkeit hängen zusammen. Geldmangel kann Langeweile auslösen, weil man nichts tun kann. Das Ende der Ideen ist es langweilig. Wo bleibt die erlösende Kreativität? Manchmal verlieren wir im Beisein anderer den Mut zu unserer eigenen Kreativität. Wir meinen, sie sei irgendwie verboten. Dann wird es uns langweilig – weil wir unser inneres Leben unterdrücken.

Langeweile liegt aber eben oft auch in der Natur der Sache. Wigald Boning bringt zu seinem 1096. Badetag in Folge (X.com) „die Langeweile ins Internet“. Mit Beharrlichkeit geht er jeden Morgen schwimmen und dokumentiert seine Ausflüge seit Jahren. Unmöglich, dass jedes Video interessant sein kann. Aber auch das hängt vom Auge des Betrachters ab: Jeder wird jedes Video als unterschiedlich langweilig empfinden. Und nur der Badende selbst kann sagen, wann es ihm langweilig wird.

Zuviel davon

Langeweile kann sich summieren: Wenn wir lernen, was uns nicht interessiert, einen Beruf ergreifen, der uns nicht liegt, wenn wir mit Hartz IV zu Hause in unserer Hochhauswohnung sitzen müssen, wird’s langweilig. Der vietnamesische Fischer in seiner Nussschale, der jeden Morgen zu seinen Götterstatuen fährt („Vietnams schwimmende Dörfer“, 3SAT), langweilt sich nicht (sagt er). Auch der Schellenbauer Peter Preisig oder die japanischen Muschel-Taucherinnen (Amas) langweilen sich meistens nicht (ARD: Japans tauchende Omas). Freilerner wie Andre Stern, der immer spielt („Ich habe nie eine Schule besucht“), langweilen sich im Gegensatz zu Schulkindern nicht. Nicht? Doch, auch sie werden sich ab und an langweilen, doch der Rhythmus ist erträglich: Die erfüllende Arbeit lässt die Langeweile bald wieder abflachen.

Yoga: In ihrem Youtube-Video erklärt Geetha Kanthasamy, wie wir manchmal genügend Energie haben, uns auch relativ munter fühlen, aber es nicht nutzen können. Das kann passieren, wenn die Verteilung der Körperenergien nicht richtig funktioniert (siehe „Vyana Vayu“ ab Minute 17.56: https://youtu.be/iOd0MVzo9-Y). Bei Langeweile entsteht manchmal genau das Gefühl: Alle Energien sind da, wir sind munter, können uns aber nicht zu etwas aufraffen, weil es uns zu langweilig erscheint.

Werden wir müde und dürfen nicht schlafen, werden unsere Beine unruhig – wir bewegen uns ziellos, bis wir uns endlich hinlegen und einschlafen dürfen. Auch dabei empfinden wir vielleicht Langeweile: wenn wir müde sind und nicht schlafen dürfen, wenn wir gehen wollen, aber nicht gehen dürfen.

Interessant

Die Nähe zur Natur und Bewegung oder ein Handwerk sind für die Menschen, die sich damit auskennen, interessant. Ein Winter auf der Hallig kann langweilig sein, doch das regelmäßige „Land unter“ bietet immer wieder neue Eindrücke (NDR, Die Nordstory: Land unter auf Hallig Hooge). Das Vertraute macht’s weniger langweilig. Das Tonleiter-Üben und Geige-Erlernen kann langweilig sein, doch wenn man sich „durchgebissen“ und es gemeistert hat, ist es plötzlich interessant. Yoga kann mal langweilig, mal interessant sein, je nachdem, wie wir in die Meditation finden, wie satt, hungrig, müde oder ausgeschlafen ir sind, je nachdem, was uns am Tag erwartet oder welche Menschen im Hintergrund an- oder abwesend sind.

Das angenehme Gefühl von Bettschwere ist das Gegenteil von Langeweile. Daran zeigt sich, dass Langeweile auch sehr stark ein körperliches Gefühl ist. Sobald wir wieder Bettschwere empfinden können, macht uns das froh.

Interessant: Auf Französisch gibt es viele Worte für „langweilig“: ennuyeux (ähnlich wie das Englische „annoying“ = nervig, unerfreulich), assommant, fastidieux (lateinisch: fastidiosus = voller Aversion, siehe archli.com), lassant, rasant, sciant (auch: sägend), bassant, barbifant, atone (wörtlich: ohne Tonus, ohne Spannung), barbant, insipide (lateinisch: insipidus = geschmacklos, ohne Geschmack), plan-plan, tuant (zum Sterben langweilig). Immer dieselbe Leier.

Die Langeweile gehört zu Leben. Sie ist Leere oder unangenehme Fülle, Kribbeln und Einsamkeit und sie „zieht sich wie Kaugummi“. Sie ist eine graue Betonwand, sie ist „langweiliges Licht“ oder schlicht eine „langweilige Uhrzeit“, wo wir zu müde zur Aktivität und zu munter zum Nickerchen sind – für viele ist das zwischen zwei und vier Uhr morgens bzw. nachmittags.

Der Theologe Romano Guardini (1885-1968) schreibt: „Ich bin mir langweilig. Ich bin mir zuwider. Ich halte es mit mir selbst nicht mehr aus … Es gibt das Gefühl, mit sich selbst betrogen, in sich eingesperrt zu sein: Nur so viel bin ich, und ich möchte doch mehr … Immer muß ich das Gleiche. Immer stoße ich an die nämlichen Grenzen. Immer begehe ich dieselben Fehler, erfahre dasselbe Versagen … Aus alledem kann eine unendliche Monotonie kommen – ein furchtbarer Überdruß. Ganze Zeiten waren dadurch charakterisiert – und zwar solche von sehr hoher Kultur. Denken wir etwa an das französische 18. Jahrhundert, in welchem die Langeweile eine uns kaum noch verständliche Rolle spielte – so sehr, daß manche, … wie Pascal gesagt hat: ‚vor Überdruß vertrockneten‘.“ Romano Guardini: Die Annahme seiner selbst. Werkbund-Verlag Würzburg, 1962, S. 13.

Vielleicht wird etwas von dieser Langeweile sichtbar, wenn man sich Videos von „schwer reichen“ Menschen anschaut, z.B. die Serie „Keeping up with the Kardashians“ (Netflix). Auch der Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ (Wikipedia) zeigt die Langeweile von einer ganz besonderen Seite: Jeder Tag ist wieder derselbe Tag – bis der Held namens Phil beginnt, zu lernen, sich zu bilden und die Wege der Liebe kennenzulernen. Es ist interessant, die Langeweile zu erforschen. Was ist das für ein Gefühl? Wo im Körper spüre ich sie? Die Langeweile ist oft wie weggeblasen, wenn sich der Zugang zu unseren Gefühlen, Projekten und Wünschen wieder öffnet und wenn wir eine Aussicht auf Erfüllung haben.

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Links:

Wigald Boning: 1096. Badetag in Folge
„Ich bringe die Langeweile ins Internet.“
https://x.com/BoningWigald/status/1940075200701497638

Corinna Martarelli et al. (2022):
A Trait-Based Network Perspective on the Validation of the French Short Boredom Proneness Scale.
Psychological Assessment, June 2022, https://doi.org/10.1027/1015-5759/a000718: „A network analysis (n = 490) revealed the structure of the relationships between the SBPS (Short Boredom Proneness Scale) and the two facets of Curiosity and Exploration Inventory-II (CEI-II). The analysis revealed positive connections between the boredom and curiosity items, whereas the connections between the boredom and exploration items were negative.“ Martarelli C. et al. 2022

Marion Martin et al. (2008):
The phenomenon of boredom
Qualitative Research in Psychology, Vol 3, 2006, Issue 3, Pages 193-211
https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1191/1478088706qrp066oa

Dieser Beitrag erschien erstmals am 3.11.2018
Aktualisiert am 2.7.2025

One thought on “Langeweile: ein Un-Gefühl

  1. Eumel sagt:

    Also ich finde Langeweile auch total toll, wenn sie sich mal zeigt. Manchmal gibt es für mich nichts besseres als ein langweiliger Nachmittag. Wenn sich die Zeit wie Kaugummi zieht und einfach nichts passiert. Ich weiß ja aus Erfahrung, das sich die Langeweile nicht ewig hält, das auch immer etwas passieren kann und nicht immer muss das gut sein. Ich bin dann immer dankbar für die Langeweile. Wenn ich dann beim 10. YouTube-Katzenvideo angekommen bin und anfange, mich frustriert zu fühlen, dann denke ich aber auch: „Hey! Jetzt gerade passiert nichts!“ Und dann freue ich mich über die Langeweile. :) Danke für den Artikel. Ich habe Langeweile vorher nie negativ betrachtet. Interessant :)

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