Verschwörungstheorien helfen gegen Ohnmachtsgefühle
Wie wir andere erleben, vor allem wie wir Autoritäten oder auch „den Staat“ erleben, hängt eng damit zusammen, wie wir unsere Eltern erlebten. Hatten wir verständnisvolle Eltern, die zu uns ein gutes emotionales Band knüpfen konnten? Konnten wir uns auf unsere Eltern verlassen, fühlten wir uns geborgen und hatten sie eine gute Mentalisierungsfähigkeit? Konnten wir das Denken und Handeln unserer Eltern nachvollziehen? Gab es schreckliche Familiengeheimnisse? Wenn wir Eltern hatten, denen wir überwiegend nicht trauen konnten, die gefühlskalt und unberechenbar waren oder gar Gewalt ausübten, dann wurden wir skeptisch. Wer als kleines Kind gewaltsame oder erdrückende Eltern hat, der muss innerlich Einiges verdrehen, damit er die Jahre der Abhängigkeit dort aushalten kann.
Kinder solch „schlechter Eltern“ behelfen sich manchmal, indem sie sich „dumm“ stellen und indem sie „nicht wissen wollen“. Sie lernen häufig auch nicht so gut, zu mentalisieren. Klar ist nur: Was bei den Eltern vor sich geht, ist irgendwie unheimlich. Solche Kinder fühlen sich furchtbar ausgeliefert.
Erfahrungen aus der Vergangenheit wirken nach
Nicht selten spielen auch schlimme Vergangenheiten in der eigenen Familie oder Kultur eine Rolle bei der Entstehung von Verschwörungstheorien. Natürlich war das organisierte Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes im Zweiten Weltkrieg etwas, was bis heute kaum vorstellbar ist. Je nachdem, wie diese Traumata in einer Kultur oder in der eigenen Familie verarbeitet wurden, kann ein Restgefühl bleiben, das besagt: Es passieren schreckliche Dinge und wir wissen nichts davon. Das Einzige, das in der schrecklichen Ungewissheit noch hilft, ist es, eigene Theorien darüber aufzustellen, warum sich die Eltern oder Menschen, von denen wir abhängig sind, so oder so verhalten. Direkter, ehrlicher Austausch war in der eigenen Familie oder Kultur vielleicht kaum möglich. Kinder von schwer verunsicherten und gewalttätigen Eltern waren selbst oft gezwungen, die Eltern zu belügen und Dinge „hintenrum“ zu machen, weil sie häufig unberechenbaren „Strafen“ aus dem Weg gehen mussten.
Unsicherheit können wir nur aushalten, wenn wir uns ausreichend geborgen fühlen.
Die Kommunikation, die zwischen Eltern und Kind schon früh gestört war, führt dazu, dass ein Kind auch als Erwachsener noch misstrauisch reagiert: Was will hier verheimlicht werden? Wo steckt der Plan hinter allem? Antworten auf Fragen wie diese führen dazu, dass sich der Betroffene weniger ausgeliefert fühlt.
Das Bedürfnis nach Erklärung und Sicherheit ist groß
Sobald ein Gedankensystem errichtet ist, das alles erklären kann, fühlen sich die Betroffenen weniger hilflos. Sie können es nicht ertragen, dass vieles im Leben komplex ist, nicht sicher ist, nicht gewusst werden kann und unbewusst ist. In ihrer Vorstellung geht es stets um Macht und Unterdrückung und um den Kampf zwischen Oben und Unten, Gut und Böse.
Und so kommt es, dass sich schwer verunsicherte Menschen relativ rasch „ganz sicher“ sind, was in der Welt vor sich geht. Irgendwer zieht hinter all dem Ganzen die Strippen, irgendwer hat Vorteile und bemächtigt sich der Situation. Die Betroffenen können sich kaum vorstellen, dass auch andere, ja sogar Mächtige, hilflos sein können und die Dinge höchstens zeitweise in ihrer Hand haben.
Die Vorstellung und dieses Gefühl, dass es keine absolute Sicherheit gibt, sind für die Betroffenen jedoch kaum auszuhalten. So enstehen Verschwörungstheorien, die sich immer wieder ähneln und die auch „unheimlich“ sind, aber die wenigstens alles erklären können. Sie verschaffen den Betroffenen ein Zugehörigkeitsgefühl und oft auch eine Lust an der Rebellion. Das Bild ist nun klar, man muss die unangenehme Unsicherheit nicht mehr aushalten – so bleibt die Verschwörungstheorie oft sehr hartnäckig bestehen.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- Minus K nach Bion: Nichtwissen als Abwehr
- Viele missbrauchte Kinder können nur schlecht mentalisieren
- Ronald Britton: Glaube, Phantasie und psychische Realität (Buchtipp)
- Corona: Was ist wahr?
Literaturtipp:
Karen M. Douglas et al. (2017):
The Psychology of Conspiracy Theories
Current Directions in Psychological Science
7.12.2017, https://doi.org/10.1177/0963721417718261
https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0963721417718261
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.4.2020
Aktualisisert am 19.9.2024
VG-Wort Zählpixel