Warum es mit der Dankbarkeit oft nicht klappt
Jetzt gibt es Dankbarkeits-Apps wie z.B. „GET.ON“, ein Programm der Leuphana-Universität, Lüneburg. Menschen, die eine Psychotherapie machen oder die Kirche besuchen, können manchmal verweifeln: Überall wird gesagt, dass man Dankbarkeit lernen, üben und ausweiten könne. Der bekannte Mönch David Steindl-Rast spricht im TED-Talk (2013) über das Glücklichwerden durch Dankbarkeit. Jeder Tag sei ein Geschenk, so Brother David. Doch nicht wenige Menschen empfinden die überwiegenden Tage in vielen Lebensphasen als quälend – ihnen erscheint das Leben oft wie eine Verdammung. Vielleicht gehörst Du dazu. Da will es mit der Dankbarkeit nicht klappen – vielleicht, weil es für die Dankbarkeit Grundvoraussetzungen gibt, an denen es Dir vielleicht sogar schon lange mangelt.
Dankbarkeit ist etwas Gesundes. Wenn Du dankbar bist, dann bist Du fähig, etwas aufzunehmen oder passiv geschehen zu lassen. Es gelingt Dir dabei, in Beziehung mit etwas (z.B. der Natur), mit Dir selbst oder mit anderen Menschen zu treten. Du bist im Moment der Dankbarkeit fähig, etwas zu genießen oder Dich berühren zu lassen. Doch es gibt vielleicht auch lange Lebensphasen, in denen Du kaum dankbar sein kannst. Auch, wenn Du es noch so sehr übst, so merkst Du vielleicht, dass Du Dich im tiefsten Inneren nicht wirklich dankbar fühlst. Für Dankbarkeit braucht man – so glaube ich – mindestens ein spürbar gutes inneres Objekt.
Wie essenziell das gute innere Objekt ist, zeigt sich besonders deutlich bei Kleinkindern: Ein Kuss von der Mama und das Kind läuft hinaus in den Garten und findet alles wunderbar. Ist die Beziehung zur Mama getrübt, ist alles andere auch getrübt. ALLES ist dann schlecht, wenn die EINE Beziehung nicht stimmt. Und alles erblüht, wenn es in dieser Beziehung wieder gut wird.
Wenn wir auf den Anruf „des oder der Einen“ warten, sind wir nicht dankbar für alle anderen Anrufer – im Gegenteil: Jeder andere Anrufer ist eine Enttäuschung.
Das gute Objekt in unserer Seele
Wenn wir in der Kindheit zu sehr unter Spannungen, Gewalt oder Abwesenheit der Eltern, unter Armut, Übertherapie und ähnlichem litten, fehlt es uns auch im weiteren Leben vielleicht an ausreichend befriedigender Intimität (im emotionalen Sinne). Wir können uns dann vielleicht nur schwer wirklich berühren lassen, weil wir immer in Hab-Acht-Stellung sind und nie mehr abhängig sein wollen. Dadurch fühlen wir uns oft einsam und isoliert. Wenn dieser Baustein (das gute innere Objekt) fehlt, dann fehlt der wichtigste Baustein zur Dankbarkeit.
„Der hat doch alles“, sagen wir und wundern uns über die Undankbarkeit vieler Menschen. Doch was ihnen und vielleicht auch uns selbst fehlt, ist eine grundlegende gute Beziehung. „Keine gute innere Mutter zu haben ist das schlimmste Leiden“, sagt der Selbstpsychologe Heinz Kohut.
Beziehung ist alles
Beziehung kann unglücklich machen, aber auch glücklich – das spüren wir ein Leben lang. Unser Sehnen, unser Wünschen dreht sich meistens um Beziehung. Wenn wir verliebt sind, ist die ganze Welt schön. „Und was ist mit Sterbenskranken und Armen? Sie sind doch oft ganz besonders dankbar.“ Viele ja. Aber auch hier sind es wieder die Menschen, die auf mindestens ein gutes inneres Objekt blicken können. Es gibt unzählige verbitterte Arme und Sterbende, für die das Leben größtenteils eine Qual war. Ihnen zu sagen, Dankbarkeit sei erlernbar, ist wie ein Affront. Die Menschen, die ihnen so etwas sagen, haben oft keine Ahnung, wie es ist, an der echten Abwesenheit eines guten inneren Objektes zu leiden.
„Das passiv Erfahrene emotional nicht ertragen können“ ist nach dem Psychoanalytiker Gerd Rudolf ein Merkmal von Menschen mit einer strukturellen, also frühen Störung (Gerd Rudolf 2006: Strukturbezogene Psychotherapie, 2. Auflage: S. 50, aktualisiert 4. Auflage, Klett-Cotta). Welche Beziehung wir zu uns selbst, zu anderen und zur Welt haben, hängt stark von unseren inneren und äußeren Beziehungen zu anderen Menschen ab – und davon, wie wir selbst behandelt wurden.
Eine Psychotherapie kann einen Vorgeschmack darauf geben, wie eine heilende Beziehung aussehen kann. Auch die lange Zusammenarbeit mit einem guten Lehrer, z.B. im Yoga, im Sport oder in der Musik, hilft vielen, aus einer inneren desolaten Situation herauszufinden. Durch die oft jahrelange neue Beziehungserfahrung mit einem Psychoanalytiker oder Lehrer kann die Seele nachträglich ein gutes inneres Objekt aufnehmen. Und derjenige, der nie dankbar sein konnte, kann irgendwann die ersten Keime von Dankbarkeit in sich erspüren. Ganz von selbst wachsen sie heran.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 8.9.2018
Aktualisiert am 11.4.2024
2 thoughts on “Warum es mit der Dankbarkeit oft nicht klappt”
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Das freut mich sehr, liebe lilapause, ganz herzlichen Dank :-)
Ein ganz wunderbarer Text. Vielen Dank.